Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Was ist mehr wert: Ein oder mehrere Leben?
#6
(28.12.2008, 00:54)Boneman schrieb: Unter diesem Gesichtspunkt ist das eigentliche Problem die Entscheidung der Frage, ab wann man sonst nichts mehr machen kann. Die Frage für die Leute am Boden ist also, ab wann sie davon ausgehen können, dass der Versuch einer Befreiung des Flugzeugs durch Leute an Bord der Maschine (Passagiere/Flugsicherheitsbegleiter) gescheitert ist.
Mit einem solchen Versuch kann man wohl nicht ernstlich rechnen. Die Leute an Bord wissen in aller Regel nichts darüber, daß sie mit den Geiselnehmern sterben werden. Die Hoffnungslosigkeit ist dann noch nicht so groß, daß Helden entstehen. Von den 4 in Amerika am 11. September entführten Flugzeugen kam es ja nur in einem davon zur Revolte. Und eine solche Revolte hat normalerweise keine große Aussicht auf Erfolg. Die Täter in Amerika waren "nur" mit Teppichmessern bewaffnet. Und trotzdem konnten es die Passagiere nicht schaffen, zu überleben. - Ich denke schon, daß es in Extremsituationen denkber ist, daß man mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß die Menschen an Bord eines gekaperten Flugzeugs sterben werden. So etwa, wenn die Geiselnehmer ihre Absichten offengelegt haben, zu meheren sind und schon relativ kurz vor dem Ziel.

(28.12.2008, 00:54)Boneman schrieb: Das ist also die eigentliche Frage? Ab wann darf man von außen eingreifen? Wenn man diesen Zeitpunkt eindeutig bestimmen könnte, wäre der Rest nicht mehr so schwer. Denn wenn klar ist, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt, als dass man draußen jetzt irgendetwas tut (z.B. den Abschuss befehlen) - dann muss man wohl irgendetwas tun. Und da mir sonst gerade keine andere Möglichkeit einfällt, diese Bedrohung ohne Opfer zu beenden, geht es für die Entscheidungsträger schließlich "nur noch" um Schadensbegrenzung (was ja immerhin weitere Menschenleben sind!).
Du setzt dabei immer voraus, daß es überhaupt eine Entscheidung geben darf. Meines Erachtens geht es aber nicht nur um das "Wann", sondern um das "Ob" überhaupt. Milde Mittel (Abdrängen des Flugzeugs, Verhandeln) darf ich immer anwenden. Aber die Handlung, die Du vorschlägst, führt zum vorzeitigen Tod der Insassen des Flugzeugs. Ich meine, man muß hier mir dem Bundesverfassungsgericht 2 grundsätzliche Wertungen beachten:

- Es darf keine Abwägung Leben gegen Leben geben. Das bedeutet, daß 200 Leben nicht mehr wert sind 250 und ein Leben nicht mehr als eine Million. Ich darf nicht einen unschuldigen (!) Menschen erschießen, um 'zig andere zu retten. Da ich ein Leben nicht einem anderen oder vielen anderen entgegensetzen kann, kann ich das "kalte Zahlenspiel" einfach nicht betreiben. Menschenleben dürfen niemals in bloßen Zahlen bemessen werden. Jedes einzelne Individuum hat Anspruch darauf, daß der Staat sein Leben nach Kräften schützt. Vielleicht klappt das nicht immer, aber aktiv beenden darf er es nicht.

- Es ist egal, wie lange die Menschen an Bord des Flugzeuges voraussichtlich noch leben werden. Mord bedeutet Lebensverkürzung. Ob das Leben um 50 Jahre oder 5 Minuten verkürzt wurde, spielt dabei keine Rolle. Ein 100jähriger Mensch ist auch nicht weniger schutzwürdig, als ein 5jähriger. Diese Sichtweise gebietet (für mich) der Respekt vor dem menschlichen Leben.

Die Grundfrage bleibt immer die gleiche: Darf der Rechtsstaat unschuldige Menschen opfern? Ich möchte diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Das ist bitter, wenn man in dem Hochhaus sitzt, in das das Flugzeug krachen wird, oder neben dem Atomkraftwerk, das getroffen wird. Aber die ganze Situation ist (wie Calesca schon sagt) ein Unfall. Entweder ich (als Rechtstaat) kann ihn mit rechtsstaatlichen Mitteln abwehren oder ich kann das nicht. Wenn ich hier nicht-rechtsstaatliche Mittel zulasse, bin ich im nächsten Schritt dabei, "aggressive Verhöre", also Folter, zu erlauben, damit ich Terroranschläge besser verhindern kann.

Natürlich würde ich das als "vermeidbares" Opfer in der Situation anders sehen. Da würde ich inständig hpffen, daß jemand seine Kompetenzen überschreitet und das Flugzeug abschießt, bevor es in das Haus stürzt, in dem ich sitze. Aber das folgt nur daraus, daß einem die Konsequenz und Rationalität abgeht, wenn es ums eigene Leben geht. Da wäre der Selbsterhaltungstrieb einfach stärker. Das ändert aber nichts daran, was ich abstrakt für richtig befinde.

Daher gibt es meines Erachtens gar keine Entscheidung, die jemand am Boden treffen könnte bzw. dürfte. Tut er es doch, mißachtet er die Menschenwürde der Unschuldigen an Bord, indem er sie nur als "das geringere Opfer" zum Abschuß freigibt.

(28.12.2008, 00:54)Boneman schrieb: Rechtsstaat schön und gut (ich bin auch froh, dass wir ihn haben), aber solche ethischen Fragen stehen über Recht und Staat.
In gewissem Rahmen tun sie das tatsächlich. Es ist nur eben ein Unterschied, ob ich etwas tun darf (weil es o.k. so ist) oder ob man mir eine - eigentlich falsche - Entscheidung nicht vorwerfen kann, weil es eine Gewissensentscheidung ist, die jeder respektieren muß. Das deutsche Strafrecht unterscheidet treffend zwischen Rechtfertigungsgründen und Entschuldigungsgründen. Wer in dieser Situation ein Flugzeug abschießt und Unschuldige tötet, um andere zu retten, ist nicht gerechtfertigt, weil diese Entscheidung rechtsstaatlich nicht in Ordnung und auch nicht tolerabel ist. Er ist aber (übergesetzlich) entschuldigt, weil man diese Gewissensentscheidung einfach respektieren muß.

Wer sich allerdings so entscheidet, stellt sich auf die Seite des Unrechts. Das mag folgendes (natürlich frei erfundenes) Beispiel zeigen:

Das Passagierflugzeug mit 100 Unschuldigen an Bord ist entführt und es besteht kein Zweifel, daß es in unmittelbarer zeitlicher Nähe in ein Hochhaus krachen und mehrere tausend Menschen (Evakuierung so schnell nicht mehr möglich) töten wird.
Militärflugzeuge sind aufgestiegen und erreichen das Flugzeug, auf weitere Befehle wartend. Ein Abdrängen ist nicht mehr möglich.
Der Verteidigungsminister (war im LuftSG so vorgesehen) gibt den Befehl zum Abschuß. Kampfpilot A will den Befehl ausführen und teilt das auch per Funk mit. Er hat entsichert und wird zweifellos gleich feuern. Kampfpilot B kann die Tötung Unschuldiger nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Er schießt den Jet des A ab. Das Passagierlugzeug kracht 10 Minuten später in das Hochhaus und tausende Menschen (darunter die 100 Unschuldigen im Flugzeug) sterben.

Hier ist Kampfpilot B gerechtfertigt, denn Kampfpilot A hat sich auf die Seite des Unrechts gestellt. Den Befehl seines Ministers darf er nicht ausführen, weil der offensichtlich rechtswidrig ist. Der kann ihn nicht rechtfertigen. Hätte er das Flugzeug abgeschossen, wäre er (nur) entschuldigt gewesen, aber rechtlich in Ordnung wäre es eben nicht gewesen, sondern Totschlag. Kampfpilot B hat also Nothilfe für die unschuldigen Menschen an Bord geleistet, als er B abgeschossen hat. Damit ist er gerechtfertigt, denn das war rechtsstaatlich in Ordnung.

Das ist eine harte Entscheidung, aber sie ist Folge klarer Regeln des Rechtsstaates. Die sollten meines Erachtens nicht ausfgeweicht werden.
"Haut die Säbel auffe Schnäbel."
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
RE: Was ist mehr wert: Ein oder mehrere Leben? - von Zurgrimm - 28.12.2008, 11:43



Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste