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Unterwegs mit Zwergen
#76
Unterwegs mit Zwergen #74

Der Wind kam aus Osten, schwer vom Geruch nasser Erde und Laub.
Hinter ihnen lagen die Mauern Phexcaers und die schmale Brücke über den Bodir, vor ihnen türmten sich die dunklen Hänge des Steineichenwalds. Zwischen den gewaltigen Stämmen der Bäume hing das Licht gedämpft, als wäre der Tag selbst hier schon älter geworden.

Sie folgten zunächst dem Fluss zurück nach Westen, am nördlichen Ufer entlang. Auf der anderen Seite, am Bodirstieg, glommen in der Ferne Wachtfeuer – erst einzelne, dann ganze Linien aus Funken, die in der Dämmerung standen wie eine zweite, unruhige Sternenkette.
Nariell warf einen langen Blick hinüber.

„Sie ziehen enger zusammen“, murmelte sie. „Mit der Zeit wird es schwer, hier noch durchzukommen.“

Sie schlugen ihr Lager in dieser Nacht ohne Feuer auf, dicht an den Uferbewuchs gedrängt. Das Rauschen des Bodir ersetzte das Knistern der Flammen, und die Dunkelheit blieb dichter als sonst.
Furka fluchte leise über das fehlende Bier, Keldi schärfte schweigend seine Klinge, Hurdin saß mit dem Rücken zum Wasser und beobachtete die Bewegung der fernen Lichter.
Althea lag wach, die Hand an der Tasche, in der die zusammengesetzte Karte ruhte. Hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie bereits die Konturen der Berge.

Am nächsten Tag biegt der Weg vom Bodir ab, hinein ins Vorgebirge.
Die Hänge wurden steiler, der Boden felsiger, das Grün der Uferwiesen wich grauen Steinen und dunklen Wurzeln. Der Pfad – soweit man ihn überhaupt so nennen konnte – kletterte an einer Abbruchkante entlang, hoch über einem Seitenarm des Bodir. Unten tobte das Wasser zwischen Felsblöcken, oben kroch Nebel über die Baumgrenzen.

Der Felssturz kam ohne Vorwarnung.

Ein kurzer Ruck durch den Boden, ein trockenes Splittern, dann brach ein Stück des Hanges wenige Schritte vor ihnen weg. Geröll, Erde, halbe Wurzeln stürzten in die Tiefe, der Donner des herabfallenden Gesteins hallte lange im Tal wider.
Alle standen still, die Hände an den Felsen, als hätte allein ihr Griff die Welt gehalten.

„Wenn wir eine halbe Minute schneller gewesen wären…“ murmelte Hurdin.

„…würden wir jetzt schwimmen lernen“, beendete Furka trocken und versuchte ein Lächeln, das niemand aufnahm.

Sie suchten sich einen neuen Weg um die frische Narbe herum, vorsichtiger nun, jeder Tritt geprüft, jeder Griff abgewogen. Dann öffnete sich vor ihnen ein schmales Tal, das tief in die Berge führte. Der Boden wurde wieder weicher, Moos wuchs zwischen Steinen, und die ersten Steineichen breiteten ihre knorrigen Kronen über ihnen aus.

Unter den Bäumen des Steineichenwalds wurde der Klang der Welt leiser.
Die Luft roch nach nassem Holz und altem Laub, der Wind verfing sich in den breiten Blättern, und das Licht sickerte in fahlem Gold durch das dichte Dach.

Hier, auf halber Höhe, legte Tondar die Karte auf einen flachen Stein.

„Wenn wir den alten Aufzeichnungen trauen“, meinte er, „müsste westlich von hier ein Bachlauf sein. Und irgendwo an einem seiner Ufer…“
Er deutete auf eine kleine, kaum erkennbare Markierung.
„…hat jemand vor langer Zeit etwas Wichtiges gefunden. Oder verloren.“

Sie berieten kurz – es gab keine bessere Alternative. Also schlugen sie sich nach Westen durch, über Wurzeln, durch dichtes Gestrüpp, immer tiefer in einen Wald, der sich eher wie ein Gedanke als wie ein Ort anfühlte.

Nach Stunden hatte das Gefühl, die Orientierung verloren zu haben, sie fest im Griff. Von Wasser fehlte jede Spur. Die Bäume sahen gleich aus, die Schatten auch, selbst der Wind schien denselben Weg immer wieder zu nehmen.
Furka hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft er sich einbildete, denselben Baum schon einmal gesehen zu haben.

Und dann – ein leises Rauschen.

Zunächst kaum mehr als ein Flüstern, das mit dem Rascheln der Blätter spielte. Dann deutlicher. Wasser.
Sie hielten den Atem an und folgten dem Geräusch, vorsichtig, als könnte ein falscher Schritt das Klangbild zerreißen.

Schließlich öffneten sich zwischen Farn und Felsen die Ufer eines kleinen Flüsschens. Das Wasser floss klar, aber träge, und flussabwärts verlor es sich in einem kleinen, sumpfigen Gebiet, das bereits aus der Ferne unpassierbar aussah. Flussaufwärts dagegen schien das Ufer fest.

Ganz in der Nähe lag ein Haufen aus Erde und Steinen, unnatürlich geformt, als hätte jemand hier vor langer Zeit etwas verbergen – oder bewahren – wollen.
Keldi kniete sich hin, schob Moos zur Seite, fand ein verrottetes Geflecht, das einmal ein Rad gewesen sein mochte. Daneben ein Stein, auf den Buchstaben eingeritzt waren.

Die ersten Zeichen waren verwittert, nur die letzten drei blieben lesbar:
…GAR.

Archon strich mit der Hand über den Stein, als könnte er so die fehlenden Buchstaben zurückholen.

„Jemand wollte nicht, dass dieser Name ganz verschwindet“, sagte er leise.

Sie sammelten junge Zweige und Schilf, flochten ein Boronrad, legten es auf den Hügel und verharrten in stiller Andacht.
Es war kein langer Moment, aber ein ehrlicher – und das genügte.

Dann folgten sie dem Flüsschen flussaufwärts.
Etwa tausend Schritt weiter wurde das Wasser so seicht, dass man bis auf den Grund sehen konnte. Knöcheltief, klar, unspektakulär. Idealer Ort, um hinüberzusetzen. Sie durchquerten das Bett, stiegen das gegenüberliegende Ufer hinauf – und standen vor einem Hang, der steil anstieg und in zerklüftete Felsen überging.

Geradeaus ging es nicht weiter.
Doch links, entlang der schroffen Wand, zeichnete sich ein Pfad ab – nicht mehr als ein Trittband, aber deutlich genug für geübte Augen.

„Der will irgendwo hin“, meinte Nariell. „Sonst hätte ihn niemand so oft benutzt.“

Der Pfad schlängelte sich nach oben. Durch einen Hohlweg, in dem der Wind wie in einer Kehle pfiff. Über Geröllfelder, in denen lose Steine unter den Stiefeln rollten. Hinauf zu einem Pass, dessen Kamm ihnen für einen Moment den Blick raubte.

Und dahinter sahen sie sie.

Auf halber Höhe des Nachbarberges, halb im Nebel, halb in blassem Sonnenlicht:
eine gewaltige Ruine. Mauern, geborsten wie alte Knochen, Türme, deren Stümpfe in den Himmel griffen, als wollten sie sich an etwas festhalten, das längst weitergezogen war.

„Das muss sie sein…“, flüsterte Nariell.

Archon betrachtete die Umrisse, wie er es mit alten Schriften tat.
„Sieht aus wie eine Grenzfestung aus der Zeit Bodirons. Vielleicht einer der ersten Vorposten, bevor Phexcaer entstand.“

„Dann haben sie vielleicht auch ihre Kisten nicht ordentlich gezählt“, meinte Furka hoffnungsvoll.

Keldi legte die Hand an den Schwertgriff. „Schauen wir, was die Geschichte uns überlassen hat.“

Der Pfad führte geradewegs auf die Ruine zu. Das Torhaus war halb eingestürzt, die Öffnung dahinter ein schwarzes Maul.
Althea trat vor, legte die Finger an den Stab, murmelte eine Formel – warmes Licht flammte an der Spitze auf. Goldene Strahlen fielen über altes Mauerwerk, verrostete Ringe, zerbrochene Steinplatten.

Hurdin und Tondar stellten sich an ihre Seiten, die Armbrüste geladen.
Archon blieb einen Schritt zurück, die Hand an dem Beutel, in dem Pergament und Feder warteten.

Keiner sprach, als sie die Schwelle überschritten.

Die Burg war noch erstaunlich gut erhalten.
Sie fanden leere Wachräume, in denen der Staub wie Asche lag; eine Waffenkammer, in der nur noch verrostete Spitzen und Schäfte an den Wänden lehnten; Treppen, die halb eingestürzt waren und vorsichtigen Tritt erforderten.
Hin und wieder ragten alte Wandmalereien aus dem Dunkel, von Ruß und Zeit gezeichnet.

Tiefer unten wurde die Luft schwer. Ein süßlicher Geruch mischte sich unter Staub und Stein.

„Untote“, murmelte Tondar, bevor sie die ersten sahen.

Sie kamen aus Seitengängen und Nischen – Knochen, Lumpen, leere Augenhöhlen, die sich im Schein von Altheas Stablicht matt weißen.
Die Gruppe kämpfte konzentriert, ohne Worte. Keldi und Hurdin stellten die Front, Furka brach immer wieder aus, schlug dort zu, wo eine Flanke offen war. Tondar und Archon hielten Abstand, Armbrustbolzen fanden zuverlässig ihr Ziel.
Altheas Zauber flammten kurz und hell, wie gezielte Atemzüge des Feuers.

Rätsel, die sie überwanden – Mechanismen, die Türen versperrten; verborgene Fallen, die mehr mit Angst als mit echten Wunden drohten; alte Siegel, die ihnen verrieten, dass dieser Ort einst mehr war als nur Stein und Wehrhaftigkeit.

Schließlich öffnete sich der Gang in eine gewaltige Halle.

Die Decke verschwand im Schatten, der Raum selbst schien aus Finsternis und Echolosen zu bestehen. Säulen zogen sich wie erstarrte Wellen durch den Saal, und aus der Tiefe brandeten sie an: Zombies, Skelette, eine ganze Woge aus totem Fleisch und Knochen.

Sie standen dicht beieinander – Formation, Reflex, Erfahrung.
Die ersten Reihen der Untoten zerschellten an ihrer Verteidigung, doch für jede gefallene Gestalt traten zwei weitere nach. Das Schaben der Knochen, das ächzende Keuchen, das trotz fehlender Lungen erklang, füllte den Raum.

Althea spürte, wie der Schweiß ihr den Nacken hinablief.
Noch ein Zauber, noch eine Blendung, noch ein Lichtstoß – doch mit jeder Beschwörung brannte die Erschöpfung tiefer in ihre Glieder.

Dann, plötzlich, brach die Welle.

Eine Stimme hallte durch die Halle, so alt wie der Staub unter ihren Füßen, und zugleich nah:
„Genug.“

Die Untoten erstarrten.
Zwischen ihnen, auf einer Art erhöhtem Podest aus Stein, stand eine Gestalt in Rüstung, die längst hätte verrosten müssen – und es doch nicht war. Ein Gesicht, halb vom Tod genommen, aber die Augen klar.

Hyggelik.
Der Große.
Der Gierige.

Er sprach von seinem Feldzug, von der Beute, von der Entscheidung, die Schatzkammer nie wieder zu verlassen – und von dem Fluch, der daraus erwuchs.
Dass sein Streben nach Mehr ihn und seine Gefolgsleute an diesen Ort gebunden hatte.
Dass die Schicksalsklinge, die er einst führte, ohne den Blick nach außen nichts war als ein weiterer glänzender Gegenstand in der Dunkelheit.

Und dass vielleicht, nur vielleicht, der Fluch nachlassen würde, wenn das Schwert wieder hinausgetragen würde – in das Licht, in den Norden, in die Hände derer, die mehr suchten als Gold.

Althea trat vor, als er ihr die Klinge reichte.
Es war, als würde sie ein Stück Geschichte anfassen.

Sie nahm das lange Schwert entgegen und betrachtete das Spiel des Lichts auf der silbern schimmernden Klinge.
Dann reichte sie die Schicksalsklinge an Keldi weiter, der sie prüfend musterte.

Die Zwerge drängten sich um ihn, und der untote Hyggelik, der im Hintergrund noch immer schwerfällig umherkroch, war für einen Moment vergessen.

„Zyklopenwerk“, sagte Hurdin leise, mit ehrlicher Bewunderung.

„Die könnte ein schönes Sümmchen bringen“, setzte Furka an – doch seine Stimme versiegte, als niemand darauf einging.

Tondar und Archon schwiegen, gefangen zwischen Staunen und einer Art Scheu.
Keldi ließ die Klinge kreisen, fühlte den Zug, das Gewicht, das perfekte Gleichmaß.

„Perfekt ausbalanciert“, murmelte er, fast ehrfürchtig, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Dann gab er die Klinge Althea zurück.

Sie wickelte das Schwert sorgsam in ihren Umhang, legte es behutsam in ihre Tasche – nicht wie Beute, sondern wie ein Versprechen.

„Und jetzt?“, fragte Furka leise.

Niemand antwortete sofort.
Dann wandten sie sich um und verließen die Halle, nach einem letzten Blick auf die unglückselige Gestalt des Großen Hyggelik, dessen Blick sie nicht mehr erreichte.


Sie fanden zurück zum Gebirgspfad, der sie weiter hinauf trug, hinauf auf den Rücken der nördlichen Kette. Jetzt, im Herbst, war der Weg noch gangbar; im Winter, da waren sich alle einig, wäre er ein Todesurteil.
Wolken zogen schnell über den Himmel, und sie wussten, dass ein einziges Unwetter genügt hätte, um den Pass zu schließen.

Doch das Wetter blieb ihnen gewogen.

Als sie die nördlichen Gipfel hinter sich ließen, öffnete sich das Land.
Vor ihnen lag ein hügeliges Hochland, sanft gewellt, mit Gras und Heide bedeckt, dahinter erhob sich das südliche Massiv des Steineichenwalds – dunkler, geschlossener, fremd.

Die Hochebene empfing sie nicht mit Weidegrund, sondern mit einem ausgedehnten Hochmoor.

Nariell blieb stehen, ließ den Blick über die nassen Flächen gleiten, in denen Wasser wie stumpfes Glas stand.

„Hier gibt es normalerweise einen Knüppeldamm“, sagte sie. „Je nach Jahreszeit liegt er drunter oder drüber.“
Sie stieß mit dem Stab in den Boden. An manchen Stellen fand sie Widerstand, an anderen sank der Stab tiefer, als einem lieb sein konnte.

Der Weg durch das Moor wurde ein Geduldsspiel.
Leichte Füße waren im Vorteil – Nariell schwebte fast über die fraglichen Stellen, Althea achtete sorgfältig auf jeden Schritt.
Keldi dagegen, schwer gerüstet, drohte mehr als einmal einzusinken. Hurdin hielt sich dicht an seiner Seite, eine Hand an dessen Schulter, die andere bereit, ihn im Zweifel am Riemen zu packen.

„Wenn ich hier steckenbleibe, bleibe ich für immer“, knurrte Keldi einmal, als das Wasser gefährlich über seine Stiefel schwappte.

„Dann hätten wir wenigstens ein klares Landmark“, murmelte Furka, konnte sich das Grinsen aber nicht ganz verkneifen.

Im Großen und Ganzen aber kamen sie durch – langsam, mühsam, aber ohne wirkliche Katastrophe.
Als sie festen Boden erreichten, fühlten sich selbst die Steine an wie ein Geschenk.

Kurz darauf trafen sie auf eine andere Reisende.

Sie stand einfach da, am Rand des Moores, das Gesicht dem Wind zugewandt, als hätte sie auf sie gewartet:
eine Elfe, klein und schlank, das Haar vom Wetter gezeichnet, den Bogen über der Schulter. Ihr Gewand war praktisch, nicht prunkvoll – eine Abenteurerin, keine Hofdame.

„Olimone“, stellte sie sich knapp vor.

Sie musterte die Zwerge mit einem Blick, in dem gleichzeitig Skepsis und ein gewisser Humor lagen, dann Althea, dann Nariell.

„Ihr seid ganz schön weit weg von Tavernen“, bemerkte sie.

„Das sagen wir uns seit Tagen“, gab Furka zurück.

Sie wechselten ein paar halblaute Spötteleien über die Eigenheiten von Zwergen, Menschen und Elfen – nichts Böses, eher das vorsichtige Antasten von Fremden, die das gleiche Risiko teilen.
Schließlich beschlossen sie, die Nacht gemeinsam in einer Mulde der Hochebene zu verbringen, wo der Wind etwas weniger biss.

Sie teilten Vorräte und Geschichten.
Olimone sprach von Pfaden, die nur selten begangen wurden, von Sternbildern, die man im Süden anders nannte, und von der leisen Kunst, in der Wildnis zu verschwinden, wenn Orks in der Nähe waren.
Die anderen erzählten – vorsichtiger – von Hyggelik, von der Ruine, von einem Schwert, dessen Namen sie nicht laut auf dem Moor aussprachen.

Am Morgen trennten sich ihre Wege.
„Wenn ihr nach Westen schaut und der Himmel zu glatt aussieht“, sagte Olimone zum Abschied, „rechnet mit Regen. Wenn er zerrissen ist, rechnet mit allem anderen.“
Dann verschwand sie so leicht zwischen den Kuppen, wie sie aufgetaucht war.

Weiter im Osten fanden sie einen einsamen Firunschrein – kaum mehr als ein steinerner Altar, ein einfaches Zeichen, ein paar alte Opfergaben, halb vom Wetter genommen.
Der Wind schnitt kalt über die offene Fläche, und für einen Moment spürten sie den nahenden Winter deutlicher als auf jedem Pass.

Tondar legte ein paar Münzen nieder, Nariell ein sorgfältig gebundenes Bündel getrockneter Kräuter.
Althea blieb einen Augenblick länger, die Finger an der kalten Kante des Steins, und dachte an alles, was noch kommen mochte.

Sie überquerten das Hügelland der Hochebene.
Es war ruhig – fast zu ruhig. Kein Tier kreuzte ihren Weg, kein Ruf durchbrach die Weite. Nur der Wind und ihre eigenen Schritte waren zu hören.

Schließlich stiegen die Hänge vor ihnen wieder an – der Weg hinauf in die südliche Gebirgskette.

Berge steigen konnten sie mittlerweile alle. Althea hatte von den Zwergen gelernt, ihre Schritte zu setzen, ihren Atem zu finden, ihre Angst vor Abgründen in Aufmerksamkeit zu verwandeln.
Nur Archon fluchte innerlich über jeden weiteren Höhenmeter – aber er tat es leise.

In einem Seitental, das sich warm und geschützt zwischen die Felsen schmiegte, bot sich ihnen eine seltene Gelegenheit:
Auf einer Lichtung stand ein Wollnashorn, ein urtümliches, massiges Wesen, dessen Fell im Wind zottelte. Nariell sah es zuerst, hob die Hand zum Zeichen.

„Wenn wir das erlegen“, murmelte sie, „essen wir die nächsten Wochen besser als mancher Adlige.“

Es wurde eine kurze, konzentrierte Jagd.
Nariells Pfeil traf, wo er treffen musste, die Zwerge sicherten die Flanken, Tondar half beim Versorgen der Beute.
Am Ende hatten sie Fleisch für Wochen – und eine zusätzliche Last, die den weiteren Aufstieg nicht gerade erleichterte.

„Wer gutes Essen will, muss es auch tragen“, kommentierte Hurdin trocken und schultere einen der schwereren Felle.

Die letzten Steilwände vor dem Übergang ins Südmassiv verlangten ihnen alles ab.
Sie arbeiteten mit Seilen, suchten Tritte und Griffe wie Goldstücke, sicherten einander Schritt für Schritt.
Althea kletterte konzentriert und überraschend geschickt – Keldi hatte ihr vor Monaten beigebracht, wie man sich selbst mit wenig Kraft, aber viel Technik nach oben ziehen konnte.

Nur Archon hing einmal zu lange in den Seilen, die Füße suchend, der Atem flach.

„Schreib‘ einfach, dass es leicht aussah“, keuchte er. „Niemand muss wissen, wie es sich angefühlt hat.“

„Ich vermerke: ‚Die Aussicht war hervorragend‘“, antwortete Althea.

Sie lachten kurz – ein knappes, aber echtes Lachen, das die Anspannung brach.

Beim Abstieg in Richtung Süden breitete sich unter ihnen wieder Wald aus – Steineichen, dicht an dicht, dunkler als auf der Nordseite.

Zwischen zwei Felsvorsprüngen sah Nariell eine Rauchfahne, die nicht zum Abendnebel passte. Sie kniff die Augen zusammen, zog Furka an der Schulter zu Boden.

„Dort“, flüsterte sie. „Kein Hirtenfeuer.“

Sie schlichen näher, legten die letzten Höhenmeter vorsichtig zurück, bis sie in einer Felsnische den Eingang einer Höhle sahen – bewacht von Orks, Banner an Speeren, Kisten und Fässer, die viel zu ordentlich für improvisiertes Lagergut wirkten.

„Keine Räuberhöhle“, sagte Keldi leise. „Ein Stützpunkt.“

Sie beobachteten den Wechsel der Wachen, warteten den richtigen Moment ab und griffen dann an – schnell, hart, aus dem Schatten heraus.
Die erste Reihe der Schwarzpelze fiel, bevor sie überhaupt richtig begriffen, was geschah. Die folgenden lieferten sich einen zähen Kampf, aber die Helden waren eingespielt, die Bewegungen saßen, die Befehle brauchten kaum Worte.

Im Inneren der Höhle fanden sie, was sie befürchtet hatten:
Rüstungen, Waffen, sorgfältig gestapelte Vorräte, seltsam rituell angeordnete Schädel und Zeichen eines Heiligtums, das sie lieber nicht zu genau betrachteten.

Und in einem hinteren, gut versteckten Raum – hinter einer Bretterwand, die für geübte Augen zu ordentlich wirkte – fanden sie Pergamente.
Aufmarschpläne.
Zeichen, Linien, Daten.

Sie breiteten sie auf einem Stein aus.
Archon, Keldi und Althea studierten sie gemeinsam.

„Hier“, sagte Keldi und tippte auf eine Markierung, „das ist die Orkschädelsteppe nordwestlich von Phexcaer.“

„Und das…“, ergänzte Archon, „ist Peraine. Im kommenden Jahr. Wenn die Zeichen stimmen.“

„Nicht mehr viel Zeit“, murmelte Althea.

Sie nahmen die Pläne an sich, so sorgfältig gefaltet, als fürchteten sie, der Inhalt könne aus den Rändern tropfen.
Die Vorräte und ein Teil des Kriegsgeräts verbrannten sie oder machten sie unbrauchbar – nicht in der Illusion, damit den Orkzug aufzuhalten, aber in dem Bewusstsein, dass jede Verzögerung einen Unterschied machen konnte.

Dann setzten sie ihren Weg fort, den Pfad weiter hinunter, hinein in den Wald der Südhänge.

In der folgenden Nacht holte sie eine kleine Verfolgergruppe ein.
Sie hörten sie, bevor sie sie sahen – das Knacken von Ästen, das kehlige Murmeln in der Orksprache, das Klirren von Metall, das nicht zu Tondars Kochgeschirr gehörte.

Sie stellten sich, nahmen eine günstige Position in einer Senke ein, ließen die Verfolger nahe genug kommen und schlugen dann zu.
Es war kein langer Kampf, aber ein wacher – niemand leistete sich einen Fehler, denn jeder wusste, dass kein Dorf, keine Garnison in Rufweite war.

Als der letzte Ork fiel, blieb der Wald still.
Nur ihr Atem und das Surren eines nachklirrenden Bolzens durchbrachen die Nacht.

Am Morgen setzten sie den Abstieg fort.
Die dicht bewaldeten Hänge schirmten sie ab; hier oben patrouillierten keine Reiter, keine Karren, keine geordneten Verbände.
Es war wieder nur Wald, nur Weg, nur Zeit.

Fast zwei Wochen nach ihrem Aufbruch in Phexcaer lichteten sich die Bäume.
Vor ihnen öffnete sich ein Tal, in dem zwei Quellflüsse zusammenflossen – unscheinbare Bänder aus Wasser, die sich zum Kraval vereinten.

Am gegenüberliegenden Ufer, hinter einer flachen Furt, lag ein kleiner Ort, Blockhäuser und Holzhütten, ein Peraine-Schrein, ein Platz, der für gelegentliche Märkte groß genug war.

Skelellen.
Das nostrische Grenzland – braun in Braun, wie Althea dachte, aber lebendiger, als es sich auf den ersten Blick zeigte.

Sie tauschten einen Blick, der mehr sagte als Worte.
Auf ihren Schultern lag nun mehr als Gepäck:
ein Schwert, das nicht für Gold bestimmt war,
und ein Wissen, das längst über sie hinauswies.

Dann machten sie sich an den Abstieg, hinunter zu Furt, Schrein und Platz –
und damit in den nächsten Abschnitt ihrer Reise.
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