29.11.2025, 08:43
Unterwegs mit Zwergen #76
Rovamund
Rovamund wirkte im ersten Licht des Morgens größer, geordneter und lebendiger als jeder Ort, den sie seit Phexcaer durchquert hatten.
Der Ort wuchs vom zentralen Platz am alten Phextempel aus nach außen, wo sich zwischen Händlern, Lagerhäusern und Werkstätten ein geschäftiges Geflecht aus Straßen und Höfen spannte.
Am Ufer des Ingval lagen breite Kais, fest ausgebaut für den Umschlag der endlosen Baumstämme, die aus dem Steineichenwald herabgeflößt wurden. Ein Teil des Holzes wanderte weiter nach Thorwal, und überall roch es nach Pech, nasser Rinde und Arbeit. Rovamund war ein guter Ort für Geschäfte — das sah man sofort: geölte Seile, kräftige Karrenpferde, laute Händler, eilige Jungen mit Schreibbrettern.
Die Präsenz der thorwalschen Herren war spürbar, aber unaufdringlich.
Über die Hälfte der Bewohner war immer noch nostrisch, und im Süden des Ortes hatte sich ein eigenes Viertel nostrischer Kaufleute etabliert. Ein Stück Heimat fern der Heimat — fest in nostrischer Hand, mit engen Tavernen und Fachwerkhäusern, in das sich ein Thorwaler nur selten verirrte.
Die Gruppe beschloss, hier einen Tag zu rasten.
Noch am Abend fielen sie, erschöpft von den Strapazen des Gebirges, in die Betten der kleinen Herberge gegenüber dem Phextempel.
Der nächste Morgen begann spät, mit Sonnenlicht, das durch die Fenster kroch und den Staub im Raum tanzen ließ.
Sie brachten die gesammelten Kräuter zu einem Händler am Marktplatz — Archons Bündel aus Wochen harter Reise — und machten ein unerwartet gutes Geschäft: nahezu 750 Dukaten wechselten den Besitzer.
Nach weiteren Erledigungen und kleinen Anschaffungen führte ihr Weg sie am Nachmittag in die Taverne Immansieg.
Ein stilles Kaminfeuer, der warme Duft von Eintopf, das Gewicht eines soliden Kruges in der Hand.
Die Zwerge streckten die Füße aus, Althea lehnte entspannt zurück, und selbst Archon schien für einen Moment weicher zu werden.
Furka hingegen war längst unterwegs: ein Lachen hier, ein Würfelklackern dort — und im Laufe des Abends hatte er beinahe jeden Stammgast zu einem kleinen Spielchen verführt. So war der Immansieg: ein Ort, an dem man für ein paar Stunden vergessen konnte, was draußen wartete.
Noch eine Nacht in der Herberge — ruhig, warm, ohne Hast.
Und am nächsten Morgen brachen sie auf, über die Uferstraße entlang des Roval, nordwärts.
Der Weg führte sie der Küste entgegen.
Und dem, was vor ihnen lag.
Peilinen wirkte wie ein Ort, der vergessen hatte, jemals eine Geschichte gehabt zu haben.
Nicht einmal die Einwohner wussten, ob der Flecken einst thorwalsch oder nostrisch gewesen war — und es schien wirklich niemanden zu kümmern. Der Ort war einfach da: ein stilles Kreuz aus zwei langen Reihen von Häusern, sauber, schlicht, gebaut aus Holz und Lehm, mit Dächern, die sich müde in die Herbstluft senkten.
Die Straße knickte hier ab, führte weiter zu den üppigen Weidegründen südöstlich von Thorwald.
Für die Menschen dieser Gegend war Peilinen ein wichtiger Punkt:
Bauern, Flussfischer, Holzfäller — sie alle brachten ihre Waren her, tauschten, verkauften, plauderten.
Doch für Reisende war es nur ein Atemzug zwischen zwei Welten.
Der Ort hatte keinen Tempel, nicht einmal einen Schrein.
Aber eine Herberge, die alles bot, was man brauchte:
Wärme, einfaches Essen und einen Platz zum Schlafen.
Und eine Taverne, die nebenan wie ein müdes Herz schlug.
Sie kamen am frühen Nachmittag an, schwer von den letzten Tagen, aber erleichtert, die weite Küstenebene fast erreicht zu haben.
Ein stilles Örtchen — genau das, was ihre müden Körper brauchten.
Die Zwerge hielten es keine zehn Minuten in der Herberge aus.
Kaum waren die Rucksäcke abgestellt, die Stiefel ausgezogen und der erste Krug geleert, rief die Langeweile lauter als alles andere.
Mit einem letzten, wortlosen Blick in den Gastraum standen sie auf, klopften sich den Staub aus den Bärten und stapften über den kleinen Platz der Taverne entgegen — angezogen von dem Versprechen eines vollen Fasses und eines ordentlichen Würfelspiels.
Archon blieb zurück.
Er saß am Kamin, wo das Feuer leise knackte, öffnete ein Buch und legte die Finger auf die erste Zeile, als würde er den Tag dort abstreifen.
Sein Blick war klar, aber weit weg — wie immer, wenn Worte und Feuer miteinander konkurrierten.
Und Althea?
Sie hatte unauffällig das Amulett aus Furkas Tasche gezogen, jenes Stück, das er ebenso unauffällig eingesteckt hatte.
Kein Kommentar. Kein Schimpfen. Kein Stirnrunzeln.
Nur dieses leise, prüfende Gefühl in der Magengrube — und der Wunsch, herauszufinden, was sie da eigentlich in Händen hielt.
Sie stieg die schmale Holztreppe hinauf, schloss die Tür ihres Zimmers hinter sich, und der Flur wurde wieder still.
Die Zwerge verbrachten einen unspektakulären Abend in der Taverne von Peilinen – ein Ort, der mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung besucht wurde. Ein paar Becher Bier, ein Kartenspiel, kurze Gespräche mit den Einheimischen, die nach einem Blick auf die Fremden sofort zu ihren eigenen Geschichten zurückkehrten. Noch vor Mitternacht standen sie wieder in der Tür der Herberge, müde, aber unbeschwert.
Am Morgen, als sie ihre Sachen packten, ließ Althea das kleine Amulett unauffällig in Furkas Tasche zurückgleiten – eine kaum sichtbare Bewegung ihrer Finger, begleitet von einem leisen Lächeln. Furka bemerkte nichts; und wenn doch, dann wusste er besser, als nachzufragen.
Sie brachen früh auf, der Pfad nach Breida war gut ausgebaut, ein alter Handelsweg zwischen Thorwal und den südlichen Ansprüchen Nostrias. Der Morgen war kühl, der Himmel grau, aber das Laufen fiel leicht nach der Rast. Die Luft roch nach feuchtem Gras und beginnendem Herbst.
Gegen Mittag erreichten sie die Wegsherberge Alt Nostria – ein Relikt aus jener Zeit, in der die Grenze zwischen Nostria und Thorwal noch öfter umstritten war. Das Gebäude war groß, steinern, mit einem verwitterten Wappen über der Tür, dessen Farben längst verblasst waren. Drinnen war es warm. Sie aßen ein kräftiges Mahl – Brot, Käse, Eintopf –, hörten sich die mürrischen Geschichten des Wirts an und zogen dann weiter.
Am Abend lagerten sie an einer Stelle, an der der Wald nach links zurückwich und die Landschaft sich öffnete. Saftige Wiesen breiteten sich aus, durchzogen von kleinen Bachläufen, die das Licht der untergehenden Sonne auffingen. Der Boden war trocken, der Himmel klar. Ein guter Ort, um die Nacht zu verbringen.
Der nächste Tag begann leicht. Die Strecke war angenehm, der Weg fest, und die Welt weitete sich Schritt für Schritt. Zur linken erstreckten sich weite, sattgrüne Wiesen, und als am Nachmittag auch zur rechten der Wald verschwand, wussten sie: Sie hatten das Herz des thorwalschen Weidelandes erreicht.
Man sagte, wenn das Tal des Bodir die Kornkammer Thorwals sei, dann sei Breida das Zentrum der Viehzucht. Und tatsächlich: In der Ferne zeichneten sich dunkle Tupfen gegen das Grün ab – Herden großer, kräftiger Rinder, die von Weide zu Weide zogen. Ab und zu sah man Hirten, die ihre Tiere mit weithin hörbaren Rufen lenkten.
Der Weg führte sanft durch die offene Landschaft, und als die Sonne sich neigte und die Schatten länger wurden, tauchten die ersten Dächer von Breida auf – ein kleines, wohlhabendes Städtchen, ruhig, geordnet, mit weiten Umzäunungen und großzügigen Gehöften.
Ein Ort, der nach Arbeit roch, nach Tier und Weide, aber auch nach Gemeinschaft.
Ein guter Ort, um einen Informanten zu finden –
oder einfach ein ruhiges Bett.
Breida war ein kapitales Städtchen — größer, geordneter und selbstbewusster als alles, was sie seit Rovamund gesehen hatten. Drei Plätze öffneten sich um die Tempel der Travia und des Swafnir, von denen aus das Straßenwerk sternförmig in die verschiedenen Viertel führte. Die Häuser waren sauber, die Dächer gepflegt, und schon wenige Schritt außerhalb der Stadtgrenzen begannen die saftig grünen Weiden, für die die Region berühmt war.
Hier traf die thorwalsche Liebe zur See auf eine bodenständige, geduldige Viehzucht. Ein Gegensatz, der nur auf den ersten Blick ein solcher war — denn die Menschen Breidas vereinten beides ohne Zögern. Viele hieben Holz für den Schiffbau. Viele trieben Vieh. Und manches Fass mit eingesalzenem Rindfleisch fand über Land und Fluss den Weg hinunter zur Küste.
Als sie die Herberge Wegkreuz erreichten, am Platz vor dem Travia-Tempel, war es bereits später Abend. Warmes Licht fiel aus den Fenstern, Stimmen und Lachen drangen heraus, aber die Müdigkeit der Ankunft ließ sie keinen langen Aufenthalt planen. Trotzdem beschlossen sie, vor dem Schlafen noch eine Taverne aufzusuchen: Man wollte Informationen über Asgrimm Thurboldsson, den letzten Informanten, den man ihnen genannt hatte.
Die Goldgrube lag nur wenige Schritte entfernt — ein breiter Bau aus dunklem Holz, solide, ohne Prunk. Um diese Zeit war wenig los. Breida war eine hart arbeitende Stadt; wer früh aufstand, ging früh zu Bett. Kein Markttag, keine Besonderheiten — nur ein paar Hirten, zwei Fischer, eine Handvoll Arbeiter.
Sie nahmen ein spätes Abendmahl ein — Brot, warmer Käse, kräftiges Fleisch — und erkundigten sich erst danach, bei einem Bier, nach Asgrimm Thurboldsson. Der Wirt hob nur die Brauen und deutete mit einem kaum merkbaren Nicken zu einem Tisch nahe des Eingangs.
Ein junger Mann saß dort, kräftig, kurz geschorenes Haar, Arme wie Balken. Ein Bauernsohn, ein Hirte, ein Thorwaler ohne See. Als Althea aufstand und seinen Namen nannte, hob er den Kopf — und als der Name Hyggelik fiel, erhob er sich sofort.
Er lud sie ein, mitzukommen, in das kleine Wohnhaus seiner Familie direkt neben dem Travia-Tempel. Drinnen war es warm, der Lehmofen glühte noch. Er setzte sie an einen grob gezimmerten Tisch und holte eine Flasche Selbstgebrannten hervor, den er mit ernster Miene einschenkte.
Dann begann er zu erzählen.
Von seinem Ururgroßvater — Asgrimm, wie er selbst.
Von dessen Wagemut, dessen Stärke, dessen Scharfsinn.
Von dessen Teilnahme an Hyggeliks Orkland-Expedition.
Und von allem anderen, was mit demselben Ururgroßvater zusammenhing — so viel, dass man glauben konnte, Asgrimm habe nicht nur die Expedition mitgeführt, sondern auch neben Hyggelik die halbe Welt erobert.
Manchmal rückte er mit der Bank näher, nur um etwas noch eindringlicher zu erzählen. Manchmal lachte er laut, manchmal wurde er ernst. Die Zwerge hörten mit Verwunderung zu. Althea lächelte höflich. Archon machte sich Notizen. Und keiner ließ sich anmerken, dass sie vor wenigen Wochen mit Hyggelik selbst gesprochen hatten — und dass dessen Bericht über Asgrimms Ururgroßvater, sagen wir, deutlich kürzer gewesen war.
Trotz allem war es ein nicht unangenehmer Abend. Asgrimm redete viel, ja — aber er war herzlich, stolz und von jener thorwalschen Direktheit, die nie beleidigt, sondern immer nur überschwappt.
Erst spät in der Nacht verabschiedeten sie sich, überquerten den kleinen Platz und kehrten zur Herberge zurück. Der Travia-Tempel nebenan war längst dunkel, nur die Fackeln am Eingang glommen.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf.
Das Ziel war klar: Thorwal.
Noch über Tjoila, ein letzter Abschnitt durch das weite thorwalsche Land — und dann die Heimkehr in die große Stadt, die ihr Spiel begann.
Am Morgen verließen sie Breida mit leichtem Schritt. Der Ort lag still hinter ihnen, wie eine Falte im Land, die sich rasch wieder glättete. Der Karrenpfad nach Westen führte zwischen Feldern und niedrigen Wäldern hindurch, und schon nach einer Stunde erreichten sie ein gutes Jagdgebiet — Hase, Reh, sogar Wildgänse, die tiefer flogen als sonst. Tondar war in seinem Element; zweimal verschwand er kurz im Unterholz und kam mit Beute zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Gegen Mittag stießen sie auf eine weitere der vielen eingestürzten Holzbrücken, wie sie der Bodir und seine Zuflüsse nach jedem Sommerregen forderten. Die Stämme waren fortgespült, zwei Pfosten hingen schief im Wasser.
Furka rollte die Ärmel hoch. „Wir retten nicht nur Thorwal, sondern dienen als thorwalsche Straßenbaukolonne.“
Keldi knurrte zustimmend, Hurdin holte wortlos Axt und Seil.
Eine Stunde später stand die Brücke wieder — stabiler als zuvor.
Am Nachmittag erreichten sie Tjoila, einen kleinen Ort aus Fachwerk und Weidenzäunen, wo der Zufluss sich breit durch die Wiesen schlängelte. Auf dem winzigen Platz fand gerade ein Bauernmarkt statt: drei Stände, ein Karren, zwei Hühner, die ständig dorthin liefen, wo sie nicht sollten.
Sie stärkten sich in der Taverne Voller Humpen — ein schlichtes, aber gutes Mahl, und wichtiger noch: sie wussten, dass das Essen in der Herberge jenseits des Flusses kaum genießbar war.
Nach dem Essen gingen sie hinunter zur Fährstelle.
Der Fährmann brachte sie über den Bodir, langsam, gegen die Strömung. Auf der anderen Seite lagen nur die Herberge Zur Fähre, ein Schuppen, ein paar Bäume — und viel Wind.
Sie blieben über Nacht, aber ohne Abendmahlzeit; niemand war so töricht, es zu bestellen.
Sie tranken nur Wasser und aßen von der Reiseverpflegung, ein stilles Abendessen in einem Raum, der roch wie kalter Rauch und altes Fischholz.
Der nächste Tag führte sie über die breite Handelsstraße nach Süden. Der Weg war gut, der Verkehr nahm zu: Händler, Fuhrwerke, einzelne Reiter. Und als sich am späten Abend der Himmel über ihnen färbte und die Luft nach Meer roch, wussten sie, dass die Reise fast vorbei war.
In der Dämmerung erreichten sie die Stadt. Die Palisaden, die Dächer, der ferne Klang des Hafens — all das wirkte plötzlich vertraut, wie das Ende eines langen, langen Atemzugs.
Thorwal nahm sie auf wie Heimkehrer.
Rovamund
Rovamund wirkte im ersten Licht des Morgens größer, geordneter und lebendiger als jeder Ort, den sie seit Phexcaer durchquert hatten.
Der Ort wuchs vom zentralen Platz am alten Phextempel aus nach außen, wo sich zwischen Händlern, Lagerhäusern und Werkstätten ein geschäftiges Geflecht aus Straßen und Höfen spannte.
Am Ufer des Ingval lagen breite Kais, fest ausgebaut für den Umschlag der endlosen Baumstämme, die aus dem Steineichenwald herabgeflößt wurden. Ein Teil des Holzes wanderte weiter nach Thorwal, und überall roch es nach Pech, nasser Rinde und Arbeit. Rovamund war ein guter Ort für Geschäfte — das sah man sofort: geölte Seile, kräftige Karrenpferde, laute Händler, eilige Jungen mit Schreibbrettern.
Die Präsenz der thorwalschen Herren war spürbar, aber unaufdringlich.
Über die Hälfte der Bewohner war immer noch nostrisch, und im Süden des Ortes hatte sich ein eigenes Viertel nostrischer Kaufleute etabliert. Ein Stück Heimat fern der Heimat — fest in nostrischer Hand, mit engen Tavernen und Fachwerkhäusern, in das sich ein Thorwaler nur selten verirrte.
Die Gruppe beschloss, hier einen Tag zu rasten.
Noch am Abend fielen sie, erschöpft von den Strapazen des Gebirges, in die Betten der kleinen Herberge gegenüber dem Phextempel.
Der nächste Morgen begann spät, mit Sonnenlicht, das durch die Fenster kroch und den Staub im Raum tanzen ließ.
Sie brachten die gesammelten Kräuter zu einem Händler am Marktplatz — Archons Bündel aus Wochen harter Reise — und machten ein unerwartet gutes Geschäft: nahezu 750 Dukaten wechselten den Besitzer.
Nach weiteren Erledigungen und kleinen Anschaffungen führte ihr Weg sie am Nachmittag in die Taverne Immansieg.
Ein stilles Kaminfeuer, der warme Duft von Eintopf, das Gewicht eines soliden Kruges in der Hand.
Die Zwerge streckten die Füße aus, Althea lehnte entspannt zurück, und selbst Archon schien für einen Moment weicher zu werden.
Furka hingegen war längst unterwegs: ein Lachen hier, ein Würfelklackern dort — und im Laufe des Abends hatte er beinahe jeden Stammgast zu einem kleinen Spielchen verführt. So war der Immansieg: ein Ort, an dem man für ein paar Stunden vergessen konnte, was draußen wartete.
Noch eine Nacht in der Herberge — ruhig, warm, ohne Hast.
Und am nächsten Morgen brachen sie auf, über die Uferstraße entlang des Roval, nordwärts.
Der Weg führte sie der Küste entgegen.
Und dem, was vor ihnen lag.
Peilinen wirkte wie ein Ort, der vergessen hatte, jemals eine Geschichte gehabt zu haben.
Nicht einmal die Einwohner wussten, ob der Flecken einst thorwalsch oder nostrisch gewesen war — und es schien wirklich niemanden zu kümmern. Der Ort war einfach da: ein stilles Kreuz aus zwei langen Reihen von Häusern, sauber, schlicht, gebaut aus Holz und Lehm, mit Dächern, die sich müde in die Herbstluft senkten.
Die Straße knickte hier ab, führte weiter zu den üppigen Weidegründen südöstlich von Thorwald.
Für die Menschen dieser Gegend war Peilinen ein wichtiger Punkt:
Bauern, Flussfischer, Holzfäller — sie alle brachten ihre Waren her, tauschten, verkauften, plauderten.
Doch für Reisende war es nur ein Atemzug zwischen zwei Welten.
Der Ort hatte keinen Tempel, nicht einmal einen Schrein.
Aber eine Herberge, die alles bot, was man brauchte:
Wärme, einfaches Essen und einen Platz zum Schlafen.
Und eine Taverne, die nebenan wie ein müdes Herz schlug.
Sie kamen am frühen Nachmittag an, schwer von den letzten Tagen, aber erleichtert, die weite Küstenebene fast erreicht zu haben.
Ein stilles Örtchen — genau das, was ihre müden Körper brauchten.
Die Zwerge hielten es keine zehn Minuten in der Herberge aus.
Kaum waren die Rucksäcke abgestellt, die Stiefel ausgezogen und der erste Krug geleert, rief die Langeweile lauter als alles andere.
Mit einem letzten, wortlosen Blick in den Gastraum standen sie auf, klopften sich den Staub aus den Bärten und stapften über den kleinen Platz der Taverne entgegen — angezogen von dem Versprechen eines vollen Fasses und eines ordentlichen Würfelspiels.
Archon blieb zurück.
Er saß am Kamin, wo das Feuer leise knackte, öffnete ein Buch und legte die Finger auf die erste Zeile, als würde er den Tag dort abstreifen.
Sein Blick war klar, aber weit weg — wie immer, wenn Worte und Feuer miteinander konkurrierten.
Und Althea?
Sie hatte unauffällig das Amulett aus Furkas Tasche gezogen, jenes Stück, das er ebenso unauffällig eingesteckt hatte.
Kein Kommentar. Kein Schimpfen. Kein Stirnrunzeln.
Nur dieses leise, prüfende Gefühl in der Magengrube — und der Wunsch, herauszufinden, was sie da eigentlich in Händen hielt.
Sie stieg die schmale Holztreppe hinauf, schloss die Tür ihres Zimmers hinter sich, und der Flur wurde wieder still.
Die Zwerge verbrachten einen unspektakulären Abend in der Taverne von Peilinen – ein Ort, der mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung besucht wurde. Ein paar Becher Bier, ein Kartenspiel, kurze Gespräche mit den Einheimischen, die nach einem Blick auf die Fremden sofort zu ihren eigenen Geschichten zurückkehrten. Noch vor Mitternacht standen sie wieder in der Tür der Herberge, müde, aber unbeschwert.
Am Morgen, als sie ihre Sachen packten, ließ Althea das kleine Amulett unauffällig in Furkas Tasche zurückgleiten – eine kaum sichtbare Bewegung ihrer Finger, begleitet von einem leisen Lächeln. Furka bemerkte nichts; und wenn doch, dann wusste er besser, als nachzufragen.
Sie brachen früh auf, der Pfad nach Breida war gut ausgebaut, ein alter Handelsweg zwischen Thorwal und den südlichen Ansprüchen Nostrias. Der Morgen war kühl, der Himmel grau, aber das Laufen fiel leicht nach der Rast. Die Luft roch nach feuchtem Gras und beginnendem Herbst.
Gegen Mittag erreichten sie die Wegsherberge Alt Nostria – ein Relikt aus jener Zeit, in der die Grenze zwischen Nostria und Thorwal noch öfter umstritten war. Das Gebäude war groß, steinern, mit einem verwitterten Wappen über der Tür, dessen Farben längst verblasst waren. Drinnen war es warm. Sie aßen ein kräftiges Mahl – Brot, Käse, Eintopf –, hörten sich die mürrischen Geschichten des Wirts an und zogen dann weiter.
Am Abend lagerten sie an einer Stelle, an der der Wald nach links zurückwich und die Landschaft sich öffnete. Saftige Wiesen breiteten sich aus, durchzogen von kleinen Bachläufen, die das Licht der untergehenden Sonne auffingen. Der Boden war trocken, der Himmel klar. Ein guter Ort, um die Nacht zu verbringen.
Der nächste Tag begann leicht. Die Strecke war angenehm, der Weg fest, und die Welt weitete sich Schritt für Schritt. Zur linken erstreckten sich weite, sattgrüne Wiesen, und als am Nachmittag auch zur rechten der Wald verschwand, wussten sie: Sie hatten das Herz des thorwalschen Weidelandes erreicht.
Man sagte, wenn das Tal des Bodir die Kornkammer Thorwals sei, dann sei Breida das Zentrum der Viehzucht. Und tatsächlich: In der Ferne zeichneten sich dunkle Tupfen gegen das Grün ab – Herden großer, kräftiger Rinder, die von Weide zu Weide zogen. Ab und zu sah man Hirten, die ihre Tiere mit weithin hörbaren Rufen lenkten.
Der Weg führte sanft durch die offene Landschaft, und als die Sonne sich neigte und die Schatten länger wurden, tauchten die ersten Dächer von Breida auf – ein kleines, wohlhabendes Städtchen, ruhig, geordnet, mit weiten Umzäunungen und großzügigen Gehöften.
Ein Ort, der nach Arbeit roch, nach Tier und Weide, aber auch nach Gemeinschaft.
Ein guter Ort, um einen Informanten zu finden –
oder einfach ein ruhiges Bett.
Breida war ein kapitales Städtchen — größer, geordneter und selbstbewusster als alles, was sie seit Rovamund gesehen hatten. Drei Plätze öffneten sich um die Tempel der Travia und des Swafnir, von denen aus das Straßenwerk sternförmig in die verschiedenen Viertel führte. Die Häuser waren sauber, die Dächer gepflegt, und schon wenige Schritt außerhalb der Stadtgrenzen begannen die saftig grünen Weiden, für die die Region berühmt war.
Hier traf die thorwalsche Liebe zur See auf eine bodenständige, geduldige Viehzucht. Ein Gegensatz, der nur auf den ersten Blick ein solcher war — denn die Menschen Breidas vereinten beides ohne Zögern. Viele hieben Holz für den Schiffbau. Viele trieben Vieh. Und manches Fass mit eingesalzenem Rindfleisch fand über Land und Fluss den Weg hinunter zur Küste.
Als sie die Herberge Wegkreuz erreichten, am Platz vor dem Travia-Tempel, war es bereits später Abend. Warmes Licht fiel aus den Fenstern, Stimmen und Lachen drangen heraus, aber die Müdigkeit der Ankunft ließ sie keinen langen Aufenthalt planen. Trotzdem beschlossen sie, vor dem Schlafen noch eine Taverne aufzusuchen: Man wollte Informationen über Asgrimm Thurboldsson, den letzten Informanten, den man ihnen genannt hatte.
Die Goldgrube lag nur wenige Schritte entfernt — ein breiter Bau aus dunklem Holz, solide, ohne Prunk. Um diese Zeit war wenig los. Breida war eine hart arbeitende Stadt; wer früh aufstand, ging früh zu Bett. Kein Markttag, keine Besonderheiten — nur ein paar Hirten, zwei Fischer, eine Handvoll Arbeiter.
Sie nahmen ein spätes Abendmahl ein — Brot, warmer Käse, kräftiges Fleisch — und erkundigten sich erst danach, bei einem Bier, nach Asgrimm Thurboldsson. Der Wirt hob nur die Brauen und deutete mit einem kaum merkbaren Nicken zu einem Tisch nahe des Eingangs.
Ein junger Mann saß dort, kräftig, kurz geschorenes Haar, Arme wie Balken. Ein Bauernsohn, ein Hirte, ein Thorwaler ohne See. Als Althea aufstand und seinen Namen nannte, hob er den Kopf — und als der Name Hyggelik fiel, erhob er sich sofort.
Er lud sie ein, mitzukommen, in das kleine Wohnhaus seiner Familie direkt neben dem Travia-Tempel. Drinnen war es warm, der Lehmofen glühte noch. Er setzte sie an einen grob gezimmerten Tisch und holte eine Flasche Selbstgebrannten hervor, den er mit ernster Miene einschenkte.
Dann begann er zu erzählen.
Von seinem Ururgroßvater — Asgrimm, wie er selbst.
Von dessen Wagemut, dessen Stärke, dessen Scharfsinn.
Von dessen Teilnahme an Hyggeliks Orkland-Expedition.
Und von allem anderen, was mit demselben Ururgroßvater zusammenhing — so viel, dass man glauben konnte, Asgrimm habe nicht nur die Expedition mitgeführt, sondern auch neben Hyggelik die halbe Welt erobert.
Manchmal rückte er mit der Bank näher, nur um etwas noch eindringlicher zu erzählen. Manchmal lachte er laut, manchmal wurde er ernst. Die Zwerge hörten mit Verwunderung zu. Althea lächelte höflich. Archon machte sich Notizen. Und keiner ließ sich anmerken, dass sie vor wenigen Wochen mit Hyggelik selbst gesprochen hatten — und dass dessen Bericht über Asgrimms Ururgroßvater, sagen wir, deutlich kürzer gewesen war.
Trotz allem war es ein nicht unangenehmer Abend. Asgrimm redete viel, ja — aber er war herzlich, stolz und von jener thorwalschen Direktheit, die nie beleidigt, sondern immer nur überschwappt.
Erst spät in der Nacht verabschiedeten sie sich, überquerten den kleinen Platz und kehrten zur Herberge zurück. Der Travia-Tempel nebenan war längst dunkel, nur die Fackeln am Eingang glommen.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf.
Das Ziel war klar: Thorwal.
Noch über Tjoila, ein letzter Abschnitt durch das weite thorwalsche Land — und dann die Heimkehr in die große Stadt, die ihr Spiel begann.
Am Morgen verließen sie Breida mit leichtem Schritt. Der Ort lag still hinter ihnen, wie eine Falte im Land, die sich rasch wieder glättete. Der Karrenpfad nach Westen führte zwischen Feldern und niedrigen Wäldern hindurch, und schon nach einer Stunde erreichten sie ein gutes Jagdgebiet — Hase, Reh, sogar Wildgänse, die tiefer flogen als sonst. Tondar war in seinem Element; zweimal verschwand er kurz im Unterholz und kam mit Beute zurück, ohne ein Wort zu sagen.
Gegen Mittag stießen sie auf eine weitere der vielen eingestürzten Holzbrücken, wie sie der Bodir und seine Zuflüsse nach jedem Sommerregen forderten. Die Stämme waren fortgespült, zwei Pfosten hingen schief im Wasser.
Furka rollte die Ärmel hoch. „Wir retten nicht nur Thorwal, sondern dienen als thorwalsche Straßenbaukolonne.“
Keldi knurrte zustimmend, Hurdin holte wortlos Axt und Seil.
Eine Stunde später stand die Brücke wieder — stabiler als zuvor.
Am Nachmittag erreichten sie Tjoila, einen kleinen Ort aus Fachwerk und Weidenzäunen, wo der Zufluss sich breit durch die Wiesen schlängelte. Auf dem winzigen Platz fand gerade ein Bauernmarkt statt: drei Stände, ein Karren, zwei Hühner, die ständig dorthin liefen, wo sie nicht sollten.
Sie stärkten sich in der Taverne Voller Humpen — ein schlichtes, aber gutes Mahl, und wichtiger noch: sie wussten, dass das Essen in der Herberge jenseits des Flusses kaum genießbar war.
Nach dem Essen gingen sie hinunter zur Fährstelle.
Der Fährmann brachte sie über den Bodir, langsam, gegen die Strömung. Auf der anderen Seite lagen nur die Herberge Zur Fähre, ein Schuppen, ein paar Bäume — und viel Wind.
Sie blieben über Nacht, aber ohne Abendmahlzeit; niemand war so töricht, es zu bestellen.
Sie tranken nur Wasser und aßen von der Reiseverpflegung, ein stilles Abendessen in einem Raum, der roch wie kalter Rauch und altes Fischholz.
Der nächste Tag führte sie über die breite Handelsstraße nach Süden. Der Weg war gut, der Verkehr nahm zu: Händler, Fuhrwerke, einzelne Reiter. Und als sich am späten Abend der Himmel über ihnen färbte und die Luft nach Meer roch, wussten sie, dass die Reise fast vorbei war.
In der Dämmerung erreichten sie die Stadt. Die Palisaden, die Dächer, der ferne Klang des Hafens — all das wirkte plötzlich vertraut, wie das Ende eines langen, langen Atemzugs.
Thorwal nahm sie auf wie Heimkehrer.

