Fußball-EM 2016 in Frankreich

[Kunar]

Den Zwölfen zum Gruße!

Da mein Rechner in den letzten Zügen zu liegen scheint, komme ich nicht zu allvzu viel diskutieren. Schade! Daher in einem Rutsch alle Viertelfinale:

Polen - Portugal war ein zähes Spiel, das ich hinsichtlich seines Charakters und Unterhaltungswertes mit Kaugummi-Auseianderziehen vergleichen würde. Überzeugt hat mich keine der beiden Mannschaften. Portugal geht ins Halbfinale, ohne ein einziges Spiel in der regulären Spielzeit gewonnen zu haben, und wird damit mein persönlicher unliebster Kandidat für den Titel.

Belgien - Wales hatte Unterhaltungswert, weil die Abwehr bei beiden Mannschaften alles andere als sicher stand. Ich gönne Wales den Sieg und historischen Erfolg. Belgien war zu Anfang besser, verzettelte sich danach aber völlig und war vor dem Tor zu unpräzise, um das Spiel noch zu drehen oder in die Verlängerung zu schicken. Die Belgier haben eine schwankende Form gezeigt, die ich irgendwie von einem anderen Land mit ähnlichen Farben in Erinnerung habe... immerhin, auch für Belgien war das Viertelfinale schon ein großer Erfolg, auch wenn man nach dem Achtelfinale berechtigte Hoffnung auf mehr gehabt hatte. Wales hingegen ist als EM-Außenseiter zum Publikumsliebling geworden.

Frankreich - Island brachte die Nordländer auf den Boden der Realität zurück. 9 (!) von den aufgestellten Isländern hatten eine gelbe Karte, dann zwei frühe Tore und die Sache war eigentlich schon gelaufen. Die bisher nicht vollends überzeugenden Franzosen, denen man im Turnier schon den Druck angemerkt hatte, der auf ihnen lastete, konnten befreit aufspielen. Allerdings konnten sie nach der frühen Führung einen Gang zurückschalten und einige wichtige Spieler auswechseln, so dass sie nicht auf Anschlag spielen mussten. Das zeigte dann auch eine gewisse Verwundbarkeit in der Abwehr: Sich noch zwei Gegentore einzufangen, macht Hoffnung für den Halbfinalgegner. Frankreich also im Schongang weiter, ohne einen Spieler durch eine zweite gelbe Karte oder Verletzungen verloren zu haben, aber ohne richtigen Glanz. Die Isländer, denen die Grenzen aufgezeigt wurden, konnten dennoch erhobenen Hauptes den Platz verlassen: Beim ersten großen Turnier ins Viertelfinale, dann das große sportliche Idol geschlagen und selbst in der Niederlage noch zwei Tore gemacht.

So, und jetzt endlich zu dem einzig wirklich wichtigen Spiel im Viertelfinale: Deutschland - Italien. Es kam ganz anders, als ich es vorher erwartet hatte:

Einziger Aberglaube, der da weiterhilft: Ich werde das Spiel am Samstag nicht sehen können, weil ich dann unterwegs bin. Also die beste Chance, plötzlich allerfeinsten Fußball gegen Italien zu zelebrieren und zu gewinnen - mindestens letzteres so wie Ende März, als ich es völlig verpasst habe.

Ich habe das Spiel phasenweise gesehen. Zwar war an dem Abend das 50-jährige Jubiläum meiner Schule und gleichzeitig 20-jähriges Abi, aber man hatte in weiser Voraussicht in einem großen Saal eine Leinwand aufgebaut, in einem Korridor noch einen Fernseher. Die Leute am Imbissstand hatten einen Laptop, um nach dem größten Andrang der Gäste zu gucken. Erstaunlich viele Leute kamen auch im Deutschland-Trikot.

Ich habe die ersten Minuten aktiv gesehen, die erste Halbzeit nebenbei mitbekommen und dann Teile der Verlängerung und das Elfmeterschießen wieder geguckt. Von daher kann ich nicht das ganze Spiel beurteilen.

Für Deutschland sieht es aber auch nicht besonders rosig aus: (...) Im Viertelfinale kommt dann aber entweder Italien oder Spanien - das dürfte es dann spätestens gewesen sein. Selbst wenn man das Testspiel gegen Italien Ende März gewonnen hat, ebenso wie Ende 2014 gegen Spanien: Die Italiener halte ich für zu abgebrüht, die Spanier für zu eingespielt, um gegen die in der Qualität schwankenden Deutschen zu verlieren. (...) ich hoffe auf Besseres!

Ach, wie süß sind Irrtümer! Gleich nach dem Spiel kam ein Spruch auf: "Jaja, dieses ganze Gerede von den abgebrühten Italienern!" Oh, was freue ich mich, daneben gelegen zu haben!

Gegen ein Italien zu verlieren, das so auftrumpft wie bisher, wäre zumindest keine Schande.

Sie haben aber nicht so aufgetrumpft wie bisher. Das Spiel war absolut statisch in den ersten Minuten, mit Deutschland in Dauer-Ballbesitz. Trotz des üblichen kompletten Zustellens hinten gelang es Deutschland, mehrmals durchzukommen. Auch am Ende sah ich in erster Linie deutsche Angriffe aufs italienische Tor. Deutschland mit der klaren Absicht, das Spiel noch auf normale Weise zu gewinnen, Italien mit der Hoffnung, sich ins Elfmeterschießen zu retten. Insofern ein wenig eine gespiegelte Situation vom Halbfinale 2006 (das heute auf den Tag 10 Jahre her ist). Am Ende waren die Italiener stehend k.o. - sie hätten es wirklich nicht verdient gehabt, da noch weiterzukommen.

Deutschland - Slowakei war das mit Abstand bisher einseitigste Spiel im Achtelfinale. Nur der lausigen Chancenverwertung ist es zu verdanken, dass die Slowaken nicht deutlich höher vom Platz gefegt wurden. (...) Selbst Dinge wie ein verschossener Elfmeter und vergebene Chancen fallen da nicht ins Gewicht. Wenn ein stärkerer Gegner kommt, sieht's natürlich anders aus, aber ein solcher souveräner Sieg gibt Selbstvertrauen. (...) Wichtig auch: Die bereits gelb vorbelasteten Spieler kassierten keine weitere Karte, auch wenn die erste gelbe gegen Hummels absolut unberechtigt war. Aber, das sehe ich ganz so wie Pergor, lieber fehlt einer in einem Halbfinale gegen Frankreich / England / Island als im Viertelfinale gegen Spanien oder Italien!

"Verschossene Elfmeter" und "vergebene Chancen" sind zwei Stichworte des Spiels geworden, ebenso wie die gelbe Karte gegen Hummels. Andererseits ist eine dezimierte deutsche Mannschaft im Halbfinale immer noch eine deutsche Mannschaft im Halbfinale - und eben nicht die Italiener.

Man kann diesen Sieg gar nicht noch genug einschätzen. Diesmal war es keine frische, aber relativ unerfahrene Mannschaft wie 2006, keine in wechselhafter Qualität spielende wie 2012. Diesmal war kein wichtiger Spieler gesperrt, Löw hatte sich auch nicht taktisch verzockt.

Pessimisten würden sagen:
- Gomez fällt aus, Khedira und Schweinsteiger eventuell, da verletzt
- Hummels gesperrt
- drei Elfmeter verschossen - wann gab's denn sowas?
- ausgerechnet die erfahrenen Spieler versagen bei den Elfmetern
- Chancenverwertung... argh!

Ich sehe es aber so:
- nach wie vor kein Gegentor aus dem Spiel heraus
- hingegen aus dem Spiel heraus ein Tor gegen Italien!
- keine weiteren Spieler gelbgesperrt - gerade bei nickeligen Italienern nicht unüblich
- Neulinge verwandeln ihre Elfmeter und behalten die Nerven
- es hängt nicht alles an einem Spieler, viele können etwas

Mit diesem Sieg ist ein Mythos zuende gegangen. Es war symbolisch wichtig, dass mit Buffon auch noch einer der Weltmeister von 2006 geschlagen wurde. Die Italiener weinten zum Teil in den Interviews danach, das ist also nicht nur aus deutscher Sicht eine hochemotionale Sache gewesen.

Das Elfmeterschießen in einem Saal voller Leute zu erleben, und dann ausgerechnet noch mit so vielen verschossenen Elfmetern, war eine Ausnahmesituation. Ich dachte wirklich, ich bekomme einen Herzkasper. Andererseits werde ich noch in 20 Jahren, wenn man mich fragt, "Wo bist Du gewesen, als Deutschland Italien schlug?", eine schöne Geschichte erzählen können.

Es ist auch kurios, wie das zusammenfällt. Damals, als ich gerade Abi hatte, verteidigte Deutschland ein 0:0 gegen Italien (gehaltener Elfmeter!) und schickte sie damit in der Vorrunde nach Hause. Insofern schloss sich da ein Kreis.

Übrigens gab es bei der EM 1996 auch ein Verletzungspech ohne Ende, es wurden sogar schon Feldspieler-Trikots für die Ersatz-Torwarte genäht. Geschadet hat das alles am Ende nichts.

Aber am Ende zählt das Ergebnis. Und das lautet: Endlich mal gegen Italien weitergekommen.

Als Statistiker wird Kunar allerdings wahrscheinlich (zu Recht) darauf bestehen, daß auch nach dem gestrigen Tage Deutschland noch nie gegen Italien in einem Turnier gewonnen hat, da Elfmeterschießen für die Statistik nicht zählen. Dafür bleibt es also beim 1:1. Dieser Umstand wird uns aber frühestens beim nächsten Aufeinandertreffen von Italien und Deutschland in einem Turnier beschäftigen müssen.

Ich halte diese Art, die Statistik zu führen, für völligen Blödsinn. Das ist für mich in etwa so relevant wie für Thomas Müller, dass er bei der WM 2014 aber nicht Torschützenkönig geworden ist. (Er gab da in einem Interview eine ganz deutliche Antwort, wenn auch humorvoll.)

Wie sehr freut es denn Italien, offiziell nicht gegen Deutschland verloren zu haben? Eben.

Aber für Elfmeterschießen-Fetischisten noch eine ganz andere Aufstellung: Liste der Länder, gegen die Deutschland eine negative Bilanz und im Elfmeterschießen gewonnen hat:
Frankreich (1982)
England (1990, 1996)
Argentinien (2006)
Italien (2016)

Fehlt tatsächlich nur Brasilien, aber da gab es bisher auch nur zwei Begegnungen in wichtigen Spielen. Aber wer pocht da auf ein Elfmeterschießen, wenn es dieses unvergessliche 7:1 in Brasilien selbst gab?

Deutschland gehört zu den besten vier Mannschaften Europas. Und da gefört die DFB-Elf nach der vollbrachten Leistung auch hin!

Italien schickt den amtierenden Europameister Spanien nach Hause und rächt sich für die Finalniederlage vor vier Jahren. (...) Die italienische Abgebrühtheit hat sich damit durchgesetzt. Italien ist ein brandgefährlicher Gegner, den ich sogar vor Deutschland sehe. Beide sind für mich die bisland besten Mannschaften bei dieser EM. Im Gegensatz zum spanischen Ausscheiden war das Aufeinandertreffen beider Mannschaften aber vorprogrammiert, gesetzt dem Fall, dass sie beide Gruppensieger und das Achtelfinale packen würden - wie es ja auch eingetreten ist.

Und so sieht es auch gegen Frankreich aus: War vorprogrammiert bei den entsprechenden Ausgängen der Spiele.

Frankreich hat den Heimvorteil, aber nicht richtig überzeugt. Deutschland hat insgesamt die bessere Mannschaft, muss aber einige Ausfälle verkraften. Ich hoffe auf Deutschland!