(01.09.2010, 22:00)Rabenaas schrieb: Das ist interessant. Es geht nicht um Argumente. Die wurden nun hinreichend ausgetauscht, ohne irgend jemanden auch nur einen Hauch von seinem Standpunkt abzubringen.Schade. Ich werde noch einen Versuch starten und Alice Miller selbst zu Wort kommen lassen. Vielleicht gelingt es ihr, die allgegenwärtige emotionalen Blindheit aufzuheben und das Einfühlungsvermögen in die Situation des Kindes ein wenig zu schärfen.
Das Problem liegt viel mehr in der Grundhaltung. Aber zum Glück ist ja jedem selbst überlassen, wie er seine Kinder erziehen möchte.
Das war es von mir aus zu dem Thema. Außerdem bin ich erkältet. Also ab in den Meckerthread.
Das erste Zitat könnte helfen, die Motive eines rebellierenden Kindes für andere verständlich zu machen. Wie Rabenaas schon sagte: Manchmal stellt ein Kind absichtlich etwas an, um eine Reaktion zu provozieren. Da im Zitat eine Einleitung fehlt: Die Autorin erzählt von ihren Erlebnissen mit Schulklassen, in denen sie das Gespräch mit den Schülern sucht.
Alice Miller in Evas Erwachen (S.136f) schrieb:III. Durchbrüche zur eigenen Geschichte
1. Wachsen in Gesprächen
[...] "Meine Eltern lieben mich und haben alles gut gemacht. Sie haben mich zuerst nicht gehauen, aber später konnten sie nicht anders, denn ich war ein Kind, das am Unsinn Freude hatte. Immer wieder habe ich etwas Dummes angestellt." Der Schüler wirkt sehr intelligent, ist aber sehr unruhig und nervös. Ich frage ihn, ob er uns ein Beispiel für diesen Unsinn geben könne. "Zum Beispiel bin ich mit zehn Jahren von zu Hause weggelaufen, und meine Mutter suchte mich fünf Stunden lang. Natürlich wurde ich später verdroschen, und heute bin ich überzeugt, daß die Strafe richtig war. Ich habe das nie wieder gemacht. Aber dafür anderen Unsinn. Ich kann es einfach nicht lassen. Wahrscheinlich bin ich schon böse auf die Welt gekommen." "Haben Sie sich mal gefragt, warum Sie so etwas tun? Was hat Sie dazu bewogen, sich von Ihrer Mutter fünf Stunden lang suchen zu lassen? War das nur, um ihr wehzutun? Versuchen Sie, sich in diesen zehnjährigen Jungen einzufühlen." Der junge Mann schaut mich nicht an, aber ich sehe, daß sich sein Gesicht verändert, die aufgesetzte Arroganz ist weg. Nach einer Weile sagt er: "Ich weiß noch, als sie mich schlugen, dachte ich, wenn sie mich so verzweifelt gesucht haben, lieben sie mich also doch. Ihre Wut ist ein Beweis ihrer Liebe." " Wenn Sie weggelaufen sind, um diese Liebe auf die Probe zu stellen, dann war es doch kein Unsinn. Vielleicht hatten Sie keine anderen Beweise." "Ja, so gesehen sieht das anders aus. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich meinen Eltern eine Last war und sie froh wären, wenn es mich nicht gäbe. Aber ihre Wut hat mir gezeigt, daß dies nicht so war." "So hat das zehnjährige Kind eigentlich intelligent und zielgerichtet gehandelt. Warum nennen Sie das Unsinn?" [...] So kann ein Mensch seine ganze Kindheit hindurch mit dem Etikett herumlaufen: "Ich bin böse, ich bin dumm, ich bin unausstehlich, ich bin eine Last" und kommt nie dazu, dies zu korrigieren, wenn seine Umgebung diese Meinung zu bestätigen scheint. Die Etiketten werden von den Eltern verteilt, entsprechen dem, was sie an ihrem Kind nicht ertragen. Und sie nehmen gerade das nicht hin, was ihre eigenen traumatischen Erinnerungen wachrufen könnte. Doch das Kind muß nicht Gefangener dieser Zuschreibungen bleiben. Es genügt ein Lehrer, der ihm hilft, diese in Frage zu stellen. Meine Erfahrung mit den Schulklassen zeigt mir, daß dies gar nicht so schwierig ist, aber selten gemacht wird.
[...]
Im zweiten geht es um den Sinn von gewissen Erziehungsmethoden, auch in Verbindung mit dem Alter des Kindes - was allerdings in diesem konkreten Fall letztendlich nichts ausmacht, weil es um körperliche Misshandlung geht. Außerdem werden die "Denkblockaden" erwähnt.
Alice Miller in Evas Erwachen (S.114f) schrieb:II. Wie entsteht emotionale Blindheit?
2. Denkblockaden
[...]
Ich bin immer wieder von neuem erschüttert über die verheerende Macht der Verleugnung, die unsere Denkblockaden errichtet. Diese einengende Macht äußert sich unter anderem darin, daß Theologen und Philosophen die Fragen der Ethik heute noch wie eh und je erörtern, ohne sich um die Ergebnisse der Hirnforschung und die Gesetze der Kindesentwicklung zu kümmern. Doch gerade diese könnten ein Licht auf die Frage werfen, wie das "Böse" entsteht bzw. wie es heraufbeschworen wird. Auch die Psychoanalytiker müßten die aus der Tradition der Schwarzen Pädagogik übernommenen Vorstellungen von angeborenen destruktiven Trieben und vom bösen, perversen Kind (vgl. AM 1988a) revidieren, wenn sie die heutige Säuglingsforschung ernst nähmen. Die Denkweise von Daniel L. Stern und den Anhängern John Bowlbys scheint heute in den psychoanalytischen Kreisen leider immer noch eine Ausnahme zu bilden. Vielleicht weil Bowlby mit seiner Theorie der ersten Bindung bereits ein Tabu gebrochen hat. Er hat die Anfänge des asozialen Verhaltens in der fehlenden ersten guten Mutterbindung geortet und sich damit gegen Freuds Triebtheorie ausgesprochen.
Meines Erachtens müssen wir indes noch einen Schritt weiter gehen als Bowlby, da es hier nicht nur um asoziales Verhalten und sogenannte narzißtische Störungen geht, sondern auch um die Einsicht, daß die Verleugnung und Verdrängung frühkindlicher Traumen und die Abspaltung der Gefühle unsere Denkfähigkeit einschränken und unsere Denkblockaden verursachen. Die biologischen Grundlagen des Phänomens der Verleugnung wurden zwar von der Gehirnforschung aufgedeckt, doch ihre Konsequenzen, ihr Einfluß auf unsere Mentalität wurde noch nicht reflektiert. Niemand scheint darüber nachdenken zu wollen, daß die Unempfindlichkeit für das Leiden des Kindes, die wir so häufig und auf der ganzen Welt feststellen können, mit der Denklähmung einhergeht, die in der Kindheit entstand.
Wir lernen als Kinder, natürliche Gefühle zu unterdrücken und zu verneinen. Wir lernen zu meinen, daß Demütigungen und Schläge zu unserem Besten verabreicht werden und uns keine Schmerzen bereiten. Mit dieser falschen Information ist unser Gehirn ausgestattet, wenn wir unsere Kinder mit den gleichen Mitteln erziehen und ihnen einreden, daß gut für sie sei, was angeblich gut für uns war.
Deshalb können Milliarden von Menschen allen Ernstes behaupten, daß Kinder nur durch den Einsatz von Gewalt gut und vernünftig werden können. Sie nehmen die Angst ihrer Kinder nicht wahr und weigern sich zu begreifen, daß sie den Kindern mit Schlägen lediglich beibringen, später ebenfalls Gewalt zu gebrauchen, gegen andere oder sich selber. Gegen diese destruktiven Überzeugungen, die auch sehr viele Intellektuelle teilen, kommt man mit keinem Argument an, weil der Körper sie sehr früh gespeichert hat. Menschen mit dieser Auffassung behaupten steif und fest Dinge, die im krassen Widerspruch zu ihrem Wissen stehen, und sie erkennen dies nicht einmal. Auf einem meiner Workshops sagte beispielsweise ein Professor: "Ich bin im allgemeinen mit Ihnen einverstanden, aber Ihre Bemühungen um ein gesetzliches Züchtigungsverbot kann ich nicht unterstützen, weil es den Eltern die Gelegenheit nimmt, den Kindern Werte zu vermitteln, und das ist doch wichtig. Meine Kinder sind jetzt drei und fünf Jahre alt, und sie müssen lernen, was man machen darf und was nicht. Wenn ein solches Gesetz durchkommt, werden sich junge Ehepaare vielleicht viel seltener zur Zeugung eines Kindes entschließen."
Ich fragte diesen Mann, ob er in der Kindheit viel geschlagen worden sei. Er antwortete, nur wenn es wirklich nötig gewesen sei, wenn er den Vater völlig aus der Fassung gebracht habe. Er habe dann die Schläge auch als gerecht empfunden. Ich fragte ihn weiter, wie alt er gewesen sei, als er zum letzten Mal geschlagen wurde, und er erwiderte, er sei damals siebzehn gewesen, der Vater sei außer sich geraten, weil er als Jugendlicher wieder einmal Unsinn gemacht habe. Ich wollte wissen, worin der Unsinn denn bestanden habe, und erhielt zunächst keine Antwort. Nach kurzem Schweigen brachte der Mann schließlich hervor: "Ich weiß den Grund nicht mehr, die Sache liegt ja schon so lange zurück, aber es muß etwas sehr Gravierendes gewesen sein, weil ich mich noch an das verzerrte Gesicht meines Vaters erinnere. Mein Vater war sehr gerecht, also muß ich die Strafe verdient haben."
Ich traute meinen Ohren nicht. Da sprach ein Mann, der Entwicklungspsychologie lehrte und sich aktiv gegen Kindesmißhandlung einsetzte, aber das Schlagen aus angeblich erzieherischen Gründen immer noch nicht als sinnlose Härte empfand. Viel wichtiger jedoch schien mir die Barriere in seinem Denken, die hier so deutlich zum Ausdruck kam. Das mußte schließlich Gründe haben, vermutlich sehr frühe Ängste, dachte ich und zögerte deshalb einen Moment lang, bevor ich das Risiko einging und mich zur Offenheit entschloß.
"Sie waren damals siebzehn Jahre alt und können sich nicht erinnern, weshalb Sie bestraft wurden. Sie erinnern sich nur an das verzerrte Gesicht Ihres Vaters und folgern daraus, daß Sie die Strafe verdient haben. Aber Sie erwarten von ihren drei und fünf Jahre alten Kindern, daß diese die gut gemeinten Lehren, die Sie ihnen mit den Schlägen vermitteln wollen, behalten werden. Wie kommen Sie dazu anzunehmen, daß ein kleines Kind diese Lektionen besser versteht als der Jugendliche und daraus etwas Positives lernt? Das geschlagene Kind kann sich nur an seine Angst erinnern, an die Gesichter der aufgeregten Eltern, aber wohl kaum an den Anlaß. Das Kind wird wie Sie annehmen, daß es böse war und die Strafe verdient hat. Wo sehen Sie da eine positive pädagogische Wirkung?"
Ich erhielt keine Antwort, aber am nächsten Tag kam der Mann auf mich zu und sagte, er habe wenig geschlafen und müsse vieles überdenken. Ich habe mich über diese Reaktion gefreut, weil da doch eine Bewegung sichtbar wurde. Die meisten Menschen fürchten diese Öffnung und wiederholen die Ansichten ihrer Eltern, ohne zu merken, daß sie damit in logische Widersprüche geraten, nur weil sie als Kinder gelernt haben, ihre Schmerzen nicht zu fühlen.
Doch die Spuren dieser Schmerzen sind nicht gelöscht. Wenn sie getilgt wären, müßten wir nicht das wiederholen, was uns angetan wurde. Die Erinnerungspartikel, von denen wir meinen, sie seien gelöscht, sind weiterhin in uns wirksam. das erkennen wir pätestens dann, wenn wir uns unserer Verhaltensweisen bewußt werden.
[...]
Mit dem dritten Zitat leitet Alice Miller im Buch ihre Ausführungen zur emotionalen Blindheit ein.
Alice Miller in Das Drama des begabten Kindes (S.109ff) schrieb:Während eines Ferienaufenthaltes kreisten meine Gedanken um das Thema 'Verachtung', und ich las verschiedene Notizen, die ich mir früher zu diesem Thema anläßlich einzelner Analysenstunden gemacht habe. Dieser meiner Sensibilisierung ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, daß ich eine banale Szene ohne spektakuläre Ereignisse, wie sie sich vermutlich häufiger abspielt, viel stärker als sonst erlebe. Ich werde mit der Beschreibung dieser Szene meine Überlegungen einleiten, weil ich an ihr ohne Gefahr der Indiskretion Einsichten illustrieren kann, die ich in der analytischen Arbeit gewonnen habe.
Auf einem Spaziergang ging vor mir ein junges Ehepaar, beide groß gewachsen, neben ihnen lief ein kleiner, ca. zweijähriger Junge und quengelte. (Wie sind gewohnt, solche Situationen vom Erwachsenen aus zu sehen, und ich möchte hier absichtlich versuchen, sie vom kindlichen Erlebnis her zu schildern.) Die beiden hatten sich soeben am Kiosk ein Eis am Stiel gekauft und schlechten genüßlich daran. Der Kleine wollte auch einen solchen Stiel haben. Die Mutter sagte liebevoll: 'Komm, du darfst von meinem einmal abbeißen, das Ganze ist zu kalt für dich.' Das Kind wollte nicht abbeißen, es streckte die Hand nach dem Stiel aus, den die Mutter ihm entzog. Es weinte verzweifelt, und nun wiederholte sich ganz die gleiche Situation mit dem Vater: 'Da, Mäuschen', sagte der Vater liebevoll, 'du darfst bei mir abbeißen.' 'Nein, nein', rief das Kind, fing wieder an zu laufen, wollte sich ablenken, kam aber immer wieder zurück und schaute neidisch und traurig hoch hinauf, wo die beiden Großen zufrieden und solidarisch ihr Eis genossen. Immer wieder bot ihm eines der Eltern einen Biß an, immer wieder streckte das Kind sein Händchen nach dem Stiel aus, und dann zog sich die erwachsene Hand mit dem Reichtum zurück. Und je mehr das Kind weinte, um so mehr amüsierten sich die Eltern. Sie mußten sehr lachen und hofften, mit diesem Lachen auch das Kind erheitern zu können: 'Guck mal, es ist doch gar nicht so wichtig, was machst du da für ein Theater.' Einmal setzte sich das Kind auf den Boden, mit dem Rücken zu den Eltern und fing an, kleine Kieselsteine hinter sich in Richtung auf die Mutter zu werfen, aber stand dann plötzlich auf und schaute beunruhigt, ob die Eltern noch da waren. Als der Vater an seinem Stiel alles gründlich abgeschleckt hatte, gab er ihn dem Kind und ging weiter. Der Junge versuchte erwartungsvoll an dem Stück Holz zu schlecken, schaute es an, warf es weg, wollte es wieder aufheben, tat es nicht, und ein tiefes, einsames Aufschluchzen voll Enttäuschung erschütterte sein Körperchen. Dann trottete er brav hinter seinen Eltern her.
[...]
Beim "kurz mal den Namen John Bowlby googeln" bin ich auf den Wikipedia-Artikel zur Bindungstheorie gestoßen, der die Diskussion auch ganz gut ergänzt. Man beachte den Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Kindes und dem Verhalten der so genannten Bindungsperson; die Tabelle im englischen Artikel bietet da eine gute Übersicht.
Great people care.