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Efferdmorgen
#21
Orkbrand, 7. Travia (Rohalstag)
Orkbrand erreicht! Was für ein Gewaltmarsch. Im Angesicht des Mondes ging es entlang des ruhig strömenden Bodirs, sodass wir am frühen Morgen Vilnvad erreichten. Ein kleines Dorf, das von der Flößerei lebt und daran reich geworden ist. Lornir erklärte, dass die Vilnvader in ständigem Zwist mit ihren Nachbarn aus Bodon lägen, da diese Beziehungen zu den Orks pflegen. Wir bekamen einige von ihnen an der Fährstation zu Gesicht, bei deren Anblick Isidor erschrak. Tiefschwarzes Fell und ein kräftiger Körperbau zeichnete diese Kerle aus. Svanja erklärte, diese Orks gehören dem Stamm der Truanzhai an und seien harmlos, sie würden in Thorwal ein ganzes Viertel bewohnen. „Harmlos, pah!“, enteilte es Lornir. „Kaum zu glauben, weit, weit östlich von hier beteiligt sich dieser ach so harmlose Stamm an der Errichtung von Kezzara.“ -„Ke…was?“, wollte Bjaki wissen. „Khezzara. Die Stadt der Orks. ‚Ihr Harordaks, sammelt euch und lauscht meinen Worten! An diesem heiligen Ort wollen wir es erbauen. Khezzara! Die Stadt des Stieres! Die Stadt des Krieges! Von hier aus werden wir uns verbünden, sammeln und all die Schwächlinge vom Antlitz der Welt tilgen.‘ - So sprach Aikar Brazoragh zu seinen Harodaks, den Priesrern des Tairach und des Brazoragh.“ - „Woher weißt du das?“, wollte Aelil wissen. „Ich war dabei. Ich habe es mit eigenen Worten gehört.“ - „Wie, du warst dabei?“, gab sich Bjaki neugierig. „Ich verbrachte Jahre, nein Jahrzehnte, in Einsamkeit, offiziell als Eremit getarnt, aber als rechte Hand Garhelts zur Verteidigung Thorwals.“ - „Jahrzehnte in Einsamkeit? Wieso das denn? Hattest du dich in unsere Hetfrau verguckt und musstest jetzt deinen Schmerz verarbeiten“, witzelte Bjaki, worauf ihm Lornir deutlich zu verstehen gab (ich hab‘ den genauen Wortlaut nicht verstanden), dass er sich seine Bemerkungen sparen solle. Jedenfalls war unser Jüngster blitzschnell mucksmäuschenstill. Lornir setzte fort: „Ich weiß nicht, ob es Schamanenmagie ist oder was auch immer, unter der Führung des Aikars haben die Orks Hunderte von Ogern unterjocht, die für sie im Rekordtempo eine Stadt aus dem Nichts hochziehen. Das Hauptportal ist so gewaltig, dass es nur von zwei Ogern gleichzeitig geöffnet werden kann. Und jeden Tag kommen mehr Orks aus allen Stämmen, Olochtai aus dem Nordwesten, Gharrachai aus dem Südosten, Orichai aus der Mitte, um sich ihm anzuschließen. Noch kommen sie zu Hunderten, bald aber schon werden sie zu Tausenden kommen.“ Nachdem unser Druide seine Rede beendet hatte, machte sich großes Schweigen unter uns breit.
Wir verließen den Lauf des Bodir und folgten der Vrala flussaufwärts. Gegen Nachmittag erreichten wir schließlich Orkbrand, bei uns Mittelländern auch als Oberorken bekannt. Hier gibt es auffällig viele Zwerge. Ist ja auch verständlich, da hier die Berge beginnen und es somit jede Menge an Kohle- und Erzminen gibt. Isidor erwarb bei einem zwergischen Waffenhändler ein Wolfsmesser - eine waldelfische Fechtwaffe, die er uns stolz präsentierte. Nachdenklich und immer noch besorgt wegen Lornirs Worten geht es ins Bett. Morgen Abend sollten wir bei Olgardsson sein.
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#22
Felsteyn, 8. Travia (Feuertag)
Die Ereignisse überschlagen sich. Wir verließen Orkbrand frühmorgens und folgten dem Lauf der Vrala weiter flussaufwärts. Vom Lächeln der goldenen Traviasonne begleitet, schien es eine angenehme Reise zu werden. Wir unterhielten uns, witzelten und genossen die Reise, wenn man diese Tage überhaupt irgendwie von Genuss sprechen kann. Das muntere Plätschern der Vrala komplettierte die Idylle. Die dunklen Schatten, die über Thorwal liegen und drohen, sich verheerend auszubreiten, schienen vergessen. Schließlich kamen wir an eine flache Stelle des Wildbachs, die zu einer Pause einlud. Isidor spielte mit dem Gedanken, die Schuhe auszuziehen und die Füße ins kalte Nass einzutauchen. Bjaki war sofort begeistert davon. Zum Glück behielt Lornir die Oberhand und wies unsere beiden Künstler der Unterhaltung darauf hin, dass wir nicht zum Vergnügen unterwegs seien und jederzeit Gefahr drohen könnte. Er sollte recht behalten.

Isidor und Bjaki waren noch damit beschäftigt, ihre Schuhe wieder anzuziehen, als Aelil mich am Arm packte und „Still“ flüsterte. Vorsichtig blickte sie über den Bach, so als ob sie mir etwas zeigen wollte. Dann sah ich es auch. Orks! In diesem Moment preschten sie auch schon aus ihrem Versteck hervor und griffen uns an. „Ruhe bewahren!“, schrie ich und griff zu meinem Köcher. Aelil reagierte ebenfalls schnell. „Fulminictus“ rief sie, und schleuderte einem der Orks eine magische Lanze entgegen. Während ich meine Pfeile abschoss, war ich von Lornir überrascht. Ehe ich mich versah, verzauberte er zwei Orkkämpfer, sodass diese fortan für uns kämpften. Damit war jetzt Waffengleichheit hergestellt - acht gegen acht. Überstürzt wegen seinen Schuhen, bekam Isidor dies nicht mit und attackierte einen der verzauberten Orks. Fortan hieß es wieder sieben gegen neun. Meine Gefährten und ich haben jedoch in Daspota dazugelernt. Diesmal wurde kein Gegner unterschätzt. Mit eisernem Willen ließen unsere beiden Thorwaler ihre Säbel sprechen und Aelil teilte eine weitere magische Lanze aus. Auch Isidor zeigte, dass er sein neu erworbenes waldelfisches Wolfsmesser noch eine Weile tragen möchte. Unter größter Anstrengung gelang es uns schließlich, den Feind Gegner um Gegner zu vernichten, bis Bjaki schließlich dem letzten mit seinem Säbel den tödlichen Hieb verpasste. Wir hatten gesiegt. Keuschend und erschöpft standen wir herum. Ich wollte mich gerade fallen lassen, als mich Lornir daran hinderte und zur Seite zerrte. „Das sind Zholochai“, sagte er mir. „Man erkennt sie an ihrem bauschwärzlich durchzogenen Fell. Die Kriegsbemalung - der weiße Stierkopf auf ihren Gesichtern - ist Erkennungszeichen der Sippe der Sorrish.“ - „Und was willst du mir damit sagen?“, fragte ich, immer noch nach Luft hechelnd. „Vor rund 80 Jahren kam es unter Hetmann Hardred zu einem Friedensschwur mit den Zholochai. Außerdem sie sind im östlichen Teil des Orklands beheimatet. Ich frage mich, was…“ Lornir kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende auszuführen, da Bjaki die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er realisierte, dass er gerade eben seinen ersten Krieger getötet hatte. „Da hast du’s du Drecksork!“, schrie er und drosch dabei wie wild auf die Leiche des vor ihm liegenden Zholochai ein. „Schade, dass du schon tot bist, sonst könntest du zurück in die Prärie marschieren oder zu diesem Aikar oder sonstwohin und verkünden, was mit den Feinden Thorwals passiert!“ Bjaki war außer sich. Entschlossen packte ich ihn an seinem Waffenarm und sah ihn an. Stille. „Der Feind?“, setzte ich ruhig an. „Sein Pflichtgefühl stand dem deinen in nichts nach, meine ich. Man fragt sich, wie er wohl hieß und wo er wohl herkam, ob er wirklich ein böses Herz hatte…welche Lügen oder Drohungen ihn zu dem Marsch aus seiner Heimat veranlasst haben. Ob er nicht lieber dort geblieben wäre - in Frieden? Der Krieg macht Leichen aus uns allen.“ Stille. Berührt von meinen Worten, ließ Bjaki seinen Säbel fallen. „Aaaaaaaaaaah“, schrie er aus voller Kehle. Dann ging er auf die Knie und sackte erschöpft und weinend über dem toten Ork zusammen. „Begrabt die Leichen“, befahl ich meinen Mitstreitern. „Eine Panik unter der Bevölkerung wegen Orküberfällen ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.“
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#23
Gegen Abend erreichten wir schließlich Felsteyn. Müde und ausgelaugt von den Ereignissen des Tages führte unser Weg direkt zu Eldgrimas Stube. Nach einer kräftigenden Mahlzeit und ein paar Bier erfuhren wir, wo sich Olgardssons Hütte befand. Wir beschlossen, noch heute Abend Olgardsson zu besuchen.
Ein alter, grauhaariger Mann öffnete uns. Nachdem wir uns vorgestellt hatten, kam dann die faustdicke Überraschung: Hygellik hat sein Schwert an einem geheimen Ort versteckt und den Aufenthaltsort in einer Karte verzeichnet. Der Haken daran ist jedoch, dass er besagte Karte in sage und schreibe neun - ja, richtig gelesen, neun!!! - n-e-u-n -Stücke geteilt und unter seinen Nachfahren verteilt hat. Immerhin, wenigstens hatte der Alte einen der Fetzen bei sich, den er auch noch bereit war, uns zu geben. Nur noch acht. Er nannte uns auch einen Namen - Ragna Firunjasdotter, wohnhaft in Vidsand. Als er dies aussprach, rollten sich Lornirs Augen, er sagte aber nichts. Während Isidor und unsere beiden Thorwaler Kämpfer noch auf einige Premer Feuer blieben, verabschiedeten sich Aelil, Lornir und ich uns bereits in Richtung Herberge. Bei „Hjalodors Ruh“ bezogen wir Quartier.
„Kalt ist es hier“, bemerkte ich. „Angenehm“, erwiderte unsere Firnelfe. „Das ist nur der Anfang“, nahm Lornir das Wort in die Hand. Der kürzeste Weg nach Vidsand ist über die Hjaldorberge.“ - „Und?“, fragte ich neugierig, gespannt, was jetzt kommen würde. „Die Berge sind eigentlich nur von Rahja bis Efferd passierbar. Wir haben bereits Mitte Travia.“ - „Anfang Travia“, korrigierte ich. „Was sollen schon acht Tage ausmachen?“ - „Eine ganze Menge während der Regenzeit.“ - „Warum sollten wir scheitern?“ - „Pah. Wie sollen wir das schaffen? Seefahrer. Schankmägde. Gaukler. Willst du sie in den Tod führen?“ - „Wenn es sein muss, werden wir alle diesen Preis bezahlen müssen.“ - „Müssen wir das? Und wer bringt dann Tronde sein Schwert?“ - „Was schlägst du vor, Lornir?“ - „Diese Ragna ist unser einziger Anhaltspunkt. Wir müssen nach Vidsand, keine Frage. Andererseits…müssen wir der Frage nachgehen, was es mit den weißen Stierkopf-Orks auf sich hat. Vielleicht…“ - „Vielleicht was?“ - „Vielleicht sollten wir uns aufteilen. Lass uns darüber schlafen, und dann triff eine Entscheidung.“
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#24
Hjaldorberge, 9. Travia (Wassertag)
Haben Felsteyn Richtung Hjaldorberge verlassen. Lornir schien alles anderes als begeistert, als ich ihm meinen Entschluss mitteilte. Ohne Ragna sehe ich unsere Suche im Sand verlaufen. Nach einer viel zu kurzen Nacht brachen wir bei unangenehmem Nieselregen auf. Noch konnten wir nicht ahnen, was uns erwarten würde. „Und warum soll dieser Pass nur bis Ende Efferd passierbar sein“, brach Bjaki die morgendliche Stille. „Wenn das so weiter geht, sind wir in drei Tagen am Hjaldinggolf. Vier Tage für zwei Kartenteile - ich würde sagen, nicht schlecht für den Anfang. Da bleibt ja noch Zeit, meine Schwester in Cardhavn zu besuchen.“ - „Bjaki Torgesson“, mahnte Lornir ernst. „Erstens, sind wir noch nicht über dem Pass. Zweitens, sollten wir es sicher hinüber schaffen, was bestimmt kein Praiostagspaziergang sein wird, wird es mit Sicherheit länger als drei Tage dauern, bis wir in Vidsand sind. Drittens ist noch überhaupt nicht klar, ob diese Ragna noch in Vidsand wohnt, von einem Kartenteil mal ganz zu schweigen. Und viertens,…“ - „Viertens“, wiederholte Bjaki. „Das erzähle ich dir ein andermal.“ Die beiden wurden in ihrer Diskussion unterbrochen, als Isidor auf einen schlafenden Reisenden am Wegrand aufmerksam machte. Aelil merkte ironisch an, dass es sich wohl um einen längeren Schlaf handeln würde, da der Reisende bereits tot ist. Mitleidsvoll wollte ihm Isidor seine Decke über den Kopf ziehen. Dabei fiel im ein Dokument auf, das der Tote mit sich führte. Es war auf Thorwalsch verfasst. Lornir las vor:

„Das Einhorn kennt viele Möglichkeiten, dir zu helfen.
Es kann sogar verlorene Gegenstände wiederbeschaffen,
wenn es selbst glaubt, dass diese von Wichtigkeit sind.
Dabei ist es schneller als der Wind.“

„Na dann hoffen wir mal alle, dass uns ein Einhorn über den Weg läuft und dieses Schwert bringt“, kommentierte Svanja nüchtern. Schweigend setzten wir unseren Weg fort. Aus Richtung Osten schien die morgendliche Traviasonne, sodass die Wolken von einem schön anzusehenden Regenbogen durchbrochen worden, ehe es wieder dunkel wurde. Der Weg vor uns zog jetzt allmählich an und führte steil nach oben. Lornirs Aussage zufolge würden wir morgen Abend den Pass erreichen. Aelils Adlerauge nahm mehrere Schlamm- und Gerölllawinen wahr. Immer wieder warnte sie uns erfolgreich vor vermeintlichen Abkürzungen. Zusehends wurden die Berge höher, bis es schließlich keine Abkürzungen oder Umwege mehr gab, sondern nur noch einen Pfad, an dessen Rand steil nach oben die Felsen der Hjaldorberge ragten. Bjaki meinte, wenn er es darauf abgesehen hätte, Reisende auszunehmen, wäre hier der ideale Ort, um einen Hinterhalt zu legen. Er sollte recht behalten. Kurze Zeit darauf stürmten einige raue Gesellen aus dem Gestrüpp hervor und wollten doch tatsächlich 90 Dukaten von uns erpressen - 15 Dukaten Wegzoll pro Person! Ich entgegnete ihnen, dass sie 15 Schwerthiebe pro Person haben könnten. Damit mussten erneut die Waffen sprechen. Die Räuber kämpften verdammt hart, aber schließlich setzten wir uns durch. In einem Bad aus Regen, Schweiß und Blut schlugen wir sie letztendlich in die Flucht. Zwei von ihnen streckten wir nieder. „Schell! Zurück zum Lager!“, rief einer der Fliehenden, was mir für kurze Zeit das Blut in den Adern stocken ließ. War das hier nur die Spitze des Eisbergs? Soll es hier noch mehr Räuber geben oder gar davon nur wimmeln? Wir haben definitiv keine Kräfte mehr, einem weiteren Angriff standzuhalten. Wir benötigen unbedingt ein sicheres Versteck, um halbwegs unbeschadet die Nacht zu überleben. Lornir verlor sogar kurzzeitig das Bewusstsein, wurde aber von Bjaki verteidigt wie von einer Bärin, die um ihr Junges kämpfte. Nachdem unser Druide wieder ansprechbar war, drang sein Retter auf ihn ein: „Ich habe dir das Leben gerettet. Sag mir jetzt deinen vierten Punkt, weshalb du Bedenken hast.“ - „Danke dafür“, antwortete der Alte gelassen. „Dann will ich mal nicht so sein. Viertens, es geht die Legende um, dass hier Gamla Bjergkuppensdottir haust. Trotz ihres Alters soll sie übermenschliche Kräfte verfügen und die Gegend hier in Angst und Schrecken versetzen.“ - „Pah, willst du mich veralbern? Diese Geschichte kennt in Thorwal doch jedes Kind. Nochmal: Was ist dein vierter Punkt?“ - „Das kann ich dir nicht sagen.“ - „Ich habe dir das Leben gerettet.“ Wir andere stimmten Bjaki zu, worauf sich Lornir geschlagen gab. „Also gut. Viertens, in den Auen des Merek-Tals grassiert zurzeit eine heimtückische Seuche. Besonders betroffen ist der Unterlauf des Flusses - Muryt und Calhis wissen nicht mehr wohin mit ihren Toten. Wenn es so weiter geht, wird sich die Seuche nächste Woche auch auf die Städte an der Küste ausbreiten. Cardhavn, Vidsand.“ - „Torgrid! Meine Schwester!“, fuhr es durch Bjaki. „Wir müssen sie warnen!“ - „Es wird gleich dunkel. Wir sind am Ende unserer Kräfte“, warf ich ein. Lasst uns zunächst irgendwo einen Lagerplatz suchen, wo wir halbwegs geschützt sind.“ - „Lager?“ Bjaki war außer sich. „Meine Schwester ist in Gefahr. Sie hat zwei kleine Kinder. Ihr könnt hier gerne lagern. Ich werde sie warnen gehen.“ - Entschlossen packte ich ihn an seinem Arm. „Bjaki. Ich verspreche dir, wir werden alles Mögliche tun, um deine Schwester zu warnen. Aber jetzt brauchen wir ein Nachtlager.“ - „Pah, was bedeutet dir schon meine Familie? Warum sollte ich dir glauben, einem Fremden?“ - „Weil es dir dein Herz sagt.“ Stille. „Lasst uns Brennholz suchen“, wandte Aelil ein. In spätestens 20 Minuten ist es stockdunkel.“
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#25
Die Hjaldorberge. Ein einziges Meer aus Stein und Fels. Jetzt, wo es Nacht geworden ist, wirkt diese dunkle Gesteinsmasse noch furchteinflößender als tagsüber. Die hiesigen Steineichen scheinen sich mit der Nacht zu vereinen und in den Vorstellungen der Einheimischen die wildesten Vorstellungen von Waldschraten, Baumnymphen und dergleichen hervorrufen. „Warum hast du mir nicht schon früher von dieser Seuche erzählt?“, wollte Bjaki von Lornir wissen. „Du bist doch der Seefahrer“, entgegnete der Alte. „Außerdem, woher soll ich wissen, dass deine Schwester dort wohnt?“
Wo sind wir hier nur hineingeraten??? Wir müssen verschiedene Leute finden, die vielleicht wissen, wo es irgendwelche Kartenteile gibt, die das Grab eines verstorbenen Kriegers beschreiben. Gegebenenfalls, wir finden diese Karte und sogar das Grab - dann gilt es, ein Schwert zu finden, das jener Krieger mal getragen hatte. Mit diesem Schwert sollen wir irgendwelchen Schwarzpelzen gegenüberzutreten, die gerade eine mächtige Stadt inmitten des Orklands errichten. Dann gibt es noch diese Stierkopf-Orks, die anscheinend ihre eigenen Pläne verfolgen. Außerdem ist im Norden Thorwals eins Seuche ausgebrochen und wir müssen Bjakis Verwandte warnen. Und dann ist da noch dieser Pass, der eigentlich nur bis Ende Efferd passierbar ist und von Räubern unsicher gemacht wird. Bleibt noch zu erwähnen, dass wir kräftemäßig ziemlich am Ende sind und zwei Drittel unserer Gruppe (noch) nicht kämpfen kann. Wenn Bjaki wirklich um jeden Preis über diesen Pass will, müssen wir wohl oder übel bei der nächsten Gelegenheit Wegzoll bezahlen.
Jetzt ist guter Rat teuer. Sollen wir uns aufteilen? Vielleicht gibt es aber auch Alternativen. „Orkbrand ist doch eine Zwergenstadt“, warf Svanja ein, die sich ebenso ihre Gedanken um unsere aktuelle Situation zu machen schien wie ich. „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst“, antwortete ich. „Die Zwerge haben die gesamten Hjaldorberge untergraben. Vielleicht gibt es ja einen unterirdischen Pass unter den Bergen hindurch. Die Minen von Orkbrand sind bekannt.“ Lornir schwieg. Etwas schien ihn zu schockieren. Schließlich entgegnete er: „Nein. Die Minen von Oberorken sind keine Alternative.“ - „Warum nicht?“, fragte Isidor für uns alle. „Die Zwerge haben tief gegraben. Zu tief. Wer weiß, was uns da erwarten würde.“ - „Was wäre mit umkehren?“, warf ich in die Runde. „Um dann erneut durch Daspota spazieren?“, entgegnete Lornir ernst. „Was schlägst du vor?“ - „Zunächst einmal den Rückzug nach Felsteyn und regenerieren.“ - „Ich habe Bjaki mein Wort gegeben, über diesen Pass zu gehen.“ - „Du hast ihm dein Wort gegeben, alles Mögliche zu tun, um seine Verwandten zu warnen.“ - „Ich denke, wir hatten alle einen langen Tag hinter uns. Lasst uns Wachen einteilen und schlafen.“ Svanja nahm ihr Skraja in die Hand und bezog Position, während ich ein Feuer entfachte. Allerdings musste ich darauf achten, dass es windgeschützt ist. Wir sind mit Sicherheit nicht die Einzigen hier oben. Während ich auf meinem Lager liege und diese Zeilen schreibe, spenden mir Aelils Flötenklänge neuen Mut. Ihre Musik ist das einzige Licht für mich, wenn alle anderen Lichter herum nicht mehr leuchten.
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#26
„Glaubst du an Swafnir?“, fragte ich Bjaki. „Ist das ernst gemeint?“ - „Habe ich einen Grund, es nicht ernst zu meinen?“ - „Fion, im Gegensatz zu euch Mittelländern glauben wir Thorwaler nicht an Swafnir. Wir wissen, dass es ihn gibt.“ - „Und warum bittest du ihn dann nicht um Beistand?“ - „Swafnir mag es nicht, wenn er um Beistand gebeten wird. Vielmehr möchte er, dass wir unsere Probleme selbst in die Hand nehmen.“ - „Vergiss nicht, auch du bist den Runjas unterstellt“, schaltete sich Svanja ein. „Sie sind Geschöpfe Ifirns und bestimmen unser Schicksal“, fügte sie hinzu, Isidors und meinen fragenden Blicken Rechnung tragend. „Wir können nichts dagegen tun.“ - „Das stimmt so nicht ganz, junge Kriegerin“, brachte sich nun auch Lornir in die Diskussion ein. „Die Runjas fordern uns auf, unsere Aufgabe für dieses Leben zu erkennen und sich diesem Schicksal zu fügen.“ - „Dann sind wir uns ja einig“, seufzte Bjaki erleichtert. „Meine Aufgabe ist es, Torgrid zu retten.“ - „Irrtum. Deine Aufgabe ist es, herauszufinden, ob du Torgrid retten sollst“, verbesserte ihn unser Druide. „Warum soll ich denn nicht meine Schwester retten wollen?“, gab sich der junge Seefahrer hartnäckig. „Sieh her, Bjaki Torgesson“, setzte Lornir an. „Vor knapp über 100 Jahren erschien Swanifrej Hygellik dem Großen.“ - „Swaniwer?“, musste ich unterbrechen. „Swanifrej“, erklärte unser Ältester weiter. „Swanifrej ist das Kind Swafnirs und Ifirns. Der Schwanendelphin durchstreift entweder als weißer Delphin die Meere oder als Schwan die Lande. Er ist der Bote seines Vaters. Vor knapp über 100 Jahren begegnete er Hygellik dem Großen und übermittelte ihm die Worte des Gottwals, die ihm schließlich den Weg zu Grimring wiesen.“ - „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst“, entgegnete Bjaki. Lornir fuhr fort. „Wir alle sind nur winzige Wassertropfen im Meer des ewigen Gottwals. Das Schicksal hat dich für die Suche nach Grimring auserwählt.“ - „Nicht ganz“, widersprach ich. „Du selbst musst herausfinden, was dein Schicksal ist.“ - „So ist es“, stimmte Lornir mir zu. „Schicksal“, entgegnete Bjaki. „Wenn die Nächte lang sind, kann es einem ohne Familie ganz schön einsam vorkommen. Nicht jeder will Druide werden. Mit Grimring kann ich mich nicht unterhalten, mit meiner Familie schon.“ - „Entscheidend ist, wo du dich danach unterhältst“, so Lornir weiter. „Wenn du am Ende nicht an Swafnirs Tafel sitzt, können die Nächte noch länger sein.“ - „Lasst uns schlafen“, intervenierte ich. „Denn heute wird die Nacht erst mal kurz sein.“
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#27
Hjaldorberge, 10. Travia (Windstag)
Wir haben diesen Tag tatsächlich überlebt! Müde und erschöpft schlief ich schnell ein, als mich jemand wieder wachrüttelte. Es war Isidor. „Schau, was einer der Räuber verloren hat!“, flüsterte unser Gaukler erfreut und streckte mir einen rostigen Dolch entgegen. „Und deshalb weckst du mich?“ - „Dieser Dolch sein vergiftet. Kukris, ihr nennt es Königsmacher. Wertvolles Gift, aus Saft von Liane von Mirham gepresst.“ - „Ich habe davon gehört. Gesehen habe ich es bislang aber noch nicht. Es soll eine starke Wirkung haben.“ - „Stark ist leicht untertrieben, Fion. Es tötet sofort.“ Jetzt weiß ich auch, warum das Zeug auf dem Wehrheimer Index steht, dachte ich mir. „Heben auf für Räuber! Hjaldorberge einfacher zu passieren.“ Ich wollte mich gerade wieder umdrehen und weiterschlafen, doch daraus wurde nichts. „Hast du das gehört?“, fragte mich Isidor.
Ich nickte. Was war los? Lornir wurde offenbar von Albträumen geplagt. Er schrie die ganze Zeit nur „Khezzara“, „Aikar“ und „Marsch“. Auch die anderen wurden wach und wir versammelten uns um sein Lager. „Kannst du nicht irgendwas zaubern, damit er die Klappe hält?“, fragte Bjaki Aelil genervt. „Es tut mir leid, aber ich musste gerade meine gesamten Zauberkräfte dafür einsetzen, dass einer der Räuber, die uns angegriffen haben, seine Klappe für immer hält, damit du die deine nicht für immer halten musstest. Schon vergessen?“, konterte die Firnelfe. „Hört auf zu streiten“, mischte sich Svanja ein, ebenfalls von der Situation genervt. „Ich stelle mir gerade eine andere Frage: Ihr erinnert euch doch sicherlich daran, wie er uns vor ein paar Tagen mit Khezzara zugetextet hat.“ -„ Ja, das wissen wir noch“, antwortete Bjaki für uns alle. „Worauf willst du hinaus?“ -„Vielleicht gibt es ja überhaupt kein Khezzara. Und das war alles nur Einbildung.“ Was war zu erst - die Henne oder das Ei? Khezzara oder der Albtraum von Khezzara?
Am nächsten Morgen entschied ich, die Gruppe weiter über die Berge zu führen. Lornir war alles andere als begeistert, aber er akzeptierte meine Entscheidung. Was hätte uns denn in der Orksteppe erwartet? Ohne Ziel eine Stadt zu suchen, die es wahrscheinlich überhaupt nicht gibt. Orks verfolgen, die keine Spuren hinterlassen haben? Auf der anderen Seite der Berge warten mit Bjakis Verwandten und der Minimalaussicht auf einen weiteren dieser Fetzen wenigstens halbwegs, besser gesagt: viertelwegs greifbare Missionen.
Lornir verteilte noch ein paar Wirselkräuter und Einbeeren, die er unterwegs gesammelt hatte, zur Kühlung unserer Wunden. Dann ging es los.
Der Wind schnitt eisig in unsere Gesichter, aber Helden kennen keinen Schmerz. Helden! Ob wir das morgen auch noch sein werden? Der Pfad führte schier unaufhörlich bergauf. Schweigend gingen wir, einer nach dem anderen, den steilen Pfad empor. Stille. Nur der Wind war noch zu hören. So gingen wir, bis die Sonne hoch am Himmel stand.
„Was ist los? Warum hältst du an?“, wollte Isidor wissen, der direkt hinter mir lief. „Hier sind Fußspuren. Sie führen in Richtung dieser Büsche“, antwortete ich. „Warum sollte uns kümmern? Wir doch wollen in andere Richtung?“ Isidor verstand es nicht. Verdutzt sah er Bjaki und Svanja an, die es ebenfalls nicht zu verstehen schienen. „Aelil oder Lornir, erklärt es ihnen, ich muss nachdenken.“ Ich merkte, wie meine Aufregung zunahm. Währenddessen erklärte Aelil unseren Gauklern und Seefahrern geduldig, dass es hier nur einen Weg gebe, der logischerweise nur in zwei Richtungen gehen könne - nach Felsteyn und nach Orkgard. Wer hier auch immer abgebogen sei, müsse also auch noch dort sein. An und für sich kein Problem, nur gegebenenfalls, dass es sich hierbei um Räuber handle, so müsse man damit rechnen, falls diese zurückkehren, dass sie auch unsere Spuren fänden, uns womöglich auflauern und dann im Schlaf überfallen könnten, weshalb wir auf alle Fälle und das Ganze mal was näher anschauen sollten. Ich lobte Aelil für ihre aufschlussreichen Erklärungen und wies meine Kameraden an, fortan zu schleichen.
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#28
Der Pfad führte über einen schmalen Grat auf eine kleine Anhöhe, die von Nebel umhüllt war. Schon von Weitem aus waren grölende Stimmen zu hören. Offensichtlich handelte es sich um das Hauptquartier der Räuberbande. Mindestens ein Dutzend dieser fiesen Zeitgefährten hatte sich um ein Feuer herum versammelt und war gerade dabei, sich mit Premer Feuer zu begießen. Wäre es jetzt zu einem Kampf gekommen, hätten wir keine Chance gehabt. Zu alledem sorgte Isidor für eine gewaltige Schrecksekunde: Er hatte sich wohl auf Grund des Regens und der Kälte über die letzten Tage eine Erkältung zugezogen und es juckte ihn gewaltig, einfach mal drauf los zu nießen. Wir hielten den Atem an. Zum Glück konnte ihn Bjaki mit einem Würgegriff in letzter Sekunde davon abhalten.
Im flackernden Schein des Feuers spähten meine Augen das Lager nach Schwachstellen aus, während indes meine Rechte zum Köcher griff und einen Pfeil hervorzog. Ich spannte die Sehne und legte an. Jetzt galt es nur noch, eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Einer der finsteren Gesellen verabschiedete sich zum Austreten: Da war sie, unsere Chance. Als er im Dunklen war, feuerte ich ab. Blattschuss. Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, begab sich ein anderer auf die Suche nach ihm. Augenblicklich folgte er seinem Kameraden in Borons Reich. Insgesamt noch vier weitere Räuber konnte ich auf diese Weise zur Strecke bringen, ehe wir bemerkt wurden. „Attacke“, schrie einer von ihnen, und fuchtelte dabei mit seinem Rapier in unsere Richtung. „Angriff“, entgegnete ich und zog erneut einen Pfeil. Mit voller Wucht stürzten wir uns in die Schlacht. Isidor stach einen dieser finsteren Gefährten mit seinem Giftdolch nieder, sodass wir schnell in Überzahl waren. Jetzt klirrten Säbel und Äxte, ehe ich nach langer Zeit mit einem gezielten Schuss den letzten von ihnen erledigte. Der Kampf zog sich bis zur Morgendämmerung. Wir hatten gesiegt! Das, was noch gestern unmöglich schien, ist eingetreten.
Erschöpft fielen wir allesamt auf den Boden. Lornir stand jedoch ziemlich rasch wieder auf und hielt uns an, die Toten zu verbrennen. Ich beschloss, die Gruppe einen Tag hier übernachten zu lassen, damit wir wieder halbwegs regenerieren können. Es steht uns schließlich noch der gesamte Abstieg nach Orkgard bevor.
Während Aelil die Wunden von Bjaki, Isidor und Lornir versorgte - die drei hat es am stärksten getroffen, gesellte sich Svanja zu mir ans Lagerfeuer. „Du hast uns gerettet“, brachte sie mir wortkarg entgegen. „Wir alle haben dafür gesorgt, dass wir noch leben“, erwiderte ich. „Wie du die Räuber erlegt hast, war beeindruckend. Ich hatte noch nie solche Präzision gesehen“, beharrte sie auf ihrem Kompliment. „Ob Mensch oder Tier, bei der Jagd gibt es wenig Unterschiede. Jeder hat einen verwundbaren Punkt, den du kennen und treffen musst.“ -„Und woher kennst du die verwundbaren Punkte von Menschen?“ - „Ich musste sie lernen. In der Wildnis hast du es nicht mit wilden Tieren allein zu tun, wie du dich ja heute selbst überzeugen konntest.“ - „Wie dem auch sei, ich bin jedenfalls froh, dass du unsere Gruppe anführst.“ Zum Glück hörte sie auf, weitere Fragen zu stellen. Ich hoffte, mit dem Betreten von Thorwal meine Vergangenheit fürs Erste einmal vergessen zu können, aber da habe ich mich wohl getäuscht.
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#29
Orkgard, 11. Travia (Erdstag)
Wir haben den Weg durch die Berge tatsächlich gemeistert! Allerdings hat uns das letzte Stück Weg nochmals alles abverlangt. Erneut bekamen wir es mit Räubern zu tun. Mein Einschüchterungsversuch schlug fehl, und so mussten wir kämpfen. Irgendwie fiel mir nichts Besseres ein, als „Zieht blank, Ritter! Das sind die Gesuchten“ zu rufen - aber mal ehrlich: Wer hat schon Angst vor einem Gaukler oder einem alten Mann? Natürlich mussten wieder unsere Nahkämpfer in die Bresche springen und um ein Haar hätten wir Svanja verloren. Auch wenn sie noch bewusstlos ist, so ist doch zumindest ihr Puls wieder stabil.
Unsere erste Anlaufstation in Orkgard war natürlich der Rondra-Tempel, dem einzigen sakralen Ort im Ort, ehe wir unsere Suite in der Herberge bezogen. Lornir klärte uns darüber auf, dass hier früher eine große Schlacht zwischen Menschen und Orks geschlagen wurde und man die Leichen der Schwarzpelze auf den umliegenden Äckern vergrub. Deshalb würde der Ort im Mittelreich auch unter dem Namen Orkanger bekannt sein - der Orkwiese, sozusagen. Orkanger sei den Orks heilig. Wenn der Mond eine gewisse Position am Himmel einnehme, seien bis ins Dorf hinein die Gesänge eines ihrer Schamanen zu hören. „Warum tanze Schamane?“, wollte Isidor wissen. „Um mit den Toten zu reden“, entgegnete unser allwissender Druide. „Und was will er mit ihnen bereden?“, fragte Bjaki neugierig. „In den Augen der Orks sind ihre Seelen verdammt, weil sie im Krieg gegen die Glatthäute gefallen sind“, ergänzte Lornir. „Der Schamane versucht sie zu überreden, ihre Ehre zurück zu erkämpfen, um endlich ihren Frieden zu finden. Irgendwann wird die Zeit dafür gekommen sein. Und ich befürchte, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis es soweit ist.“ Ich hoffe inbrünstig, dass wir bis dahin Hyggeliks Schicksalsklinge gefunden haben.
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#30
Unterwegs zwischen Orkgard und Skovbjerg, 12. Travia (Markttag)
Heute ist Tag der Treue. Während dieses Ereignis für den aus dem hohen Norden stammenden Bjaki bis heute keine allzugroße Bedeutung hatte, waren unsere beiden Südthorwaler anderer Meinung. Vor allem die aus Vaermhag kommende Svanja bestand darauf, dass wir uns als Gruppe die Treue schwuren - auf Leben und Tod. Isidor war sofort begeistert. Aelil zögerte zunächst, willigte dann aber auch ein. „Was ist mir dir, Fion?“, fragte mich Svanja schließlich erwartungsvoll. „Ich bin dabei“, antwortete ich, ebenfalls zögernd. Lornir richtete ein paar Steine zu einer Art Altar auf und forderte uns auf, unsere Hände darauf zu legen. Wir taten so und Svanja gab dem Visendamader, wie Thorwaler ihre Druiden ehrfurchtsvoll nennen, das Zeichen, dass er das Ritual beginnen möge. Daraufhin nahm Lornir seinen vulkangläsernen Dolch in die rechte Hand und ritzte sich damit in den linken Unterarm, sodass das ein wenig Blut herausquoll. Dieses Blut ließ er dann auf den obersten der aufgetürmten Steine tropfen. Während das Blut floss, schwur der Druide bei Swafnir, dass er von nun an sein Leben einsetzen werde, um diese, unsere Schicksalsgemeinschaft verteidigen zu wollen. Svanja, die zu seiner Rechten stand, nahm seinen Dolch und tat es ihm gleich. Es folgten Bjaki, Isidor und Aelil. Wobei die beiden letztgenannten Swafnir aus ihrer Schwurformel herausließen - wiederum sehr zum Ärgernis unserer drei Thorwaler. Schließlich kam ich an die Reihe und versuchte, in bestem Thorwalsch meinen Schwur abzugeben. Bjaki und Svanja mussten sich an manchen Stellen zwar das Lachen verkneifen, da es mir als Mittelländer nun mal sichtlich Probleme bereitet, das thorwalsche „Th“ auszusprechen. Aber das machte nichts - der Schwur galt trotzdem, und da ich in meiner Formel Swafnir erwähnte, hatte ich die drei Thorwaler schnell auf meiner Seite. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, in meinen Gefährten von nun an mehr als Gefährten gefunden zu haben, nämlich Freunde. Vielleicht sogar Freunde fürs Leben.
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#31
Unterwegs zwischen Skovbjerg und Tyldon, 13. Travia (Praiostag)
Mit Anbruch der Dämmerung erreichten wir Skovbjerg. Nachdem wir uns erst zwei Tage zuvor eine Herberge in Orkgard geleistet hatten, war klar, dass wir uns hier nur kurz stärken und dann die Nacht durch marschieren würden. Wenn es stimmt, dass diese todbringende Seuche im gesamten Merektal grassiert, muss die Bevölkerung von Cardhavn gewarnt werden. Aber bevor wir irgendwelche Pferde scheu machen, sollten wir uns natürlich auch versichern, dass an diesen Gerüchten etwas dran ist. In Skovbjerg selbst war von einer Panik noch nichts zu spüren. Es findet zurzeit das berühmte Skovbjerger Marktfest, wie ich mir habe sagen lassen, und dementsprechend war die Stadt auch gut gefüllt. Aus einer Schänke waren fröhliches Gelächter und Lautenmusik zu vernehmen. „Lasst uns hier einkehren“, schlug Lornir vor. „Wo Freude und Wein sind, werden keine Fragen gestellt. Wir stimmten dem zu, doch weit gefehlt! Wir ließen uns an der Theke nieder - Bjaki hatte gerade eine Runde Helles für uns bestellt - und wollten zum ersten Schluck ansetzen, als Isidor wie paralysiert wirkte. „Hej mein Freund“, steckte ihm Bjaki grölend und schulterklopfend. "Was ist los? Man könnte meinen, du hättest einen Basilisken erblickt.“ „Kein Basilisk“, erwiderte Isidor bleich. „Aber sehe die dunkle Frau dahinte? Schaue böse die ganze Zeit!“ „Starr nicht so zurück“, meinte Lornir ernst, „wir wollen uns hier nur kurz stärken.“ Es war bereits zu spät. Die Waldläuferin erhob sich und kam auf uns zu.
Die Frau hatte vielleicht 45 Götterläufe hinter sich. Kraftvoll schienen ihre dunklen Augen durch das wettergegerbte Gesicht. Ihr dunkelbraunes Haar war mit Adlerfedern geschmückt. In ihrer Rechten hielt sie einen Speer, während ein präzise geschnitzter Langbogen über ihrer rechten Schulter hing. Bjaki, der sein Bier bereits runtergeext hatte, richtete fröhlich vorlaut das Wort an die Fremde: „Zwei Waffen rechts, keine Waffe links. Das ist aber nicht gut für die Haltung.“ Und schon begannen er und Svanja zu lachen, während Isidor ziemlich eingeschüchtert wirkte und wir anderen drei eine solche Situation aus der eher für uns typischen Distanz betrachteten. „Das Waskirer Hochland ist kein Drachenschiff, Sjahskari“, entgegnete die Fremde mit rauer Stimme trocken. „Tja Bjaki, da staunst du?“, warf Svanja lachend ein. „Wer hätte gedacht, dass du auch mal ´nen Spruch fängst?“ - „Boah Svanja, wieso verbrüderst du dich mit ihr? Hatten wir uns gestern nicht Freundschaft geschworen?“ Aber damit nicht genug. Nun meinte diese fremde Waldläuferin, jetzt müsse sie zu einer Attacke setzen. Hätte sie das mal sein gelassen, denn sie kannte unseren Bjaki nicht und außerdem hätten wir dann jetzt nicht diesen Schlamassel am Hals…
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#32
„Ist das süß - Bärchen und Schwanenkind! Ihr habt ja niedliche Namen. Was macht ihr denn hier? Habt ihr euch verlaufen? Kann ja mal passieren, auf so einem großen Marktfest…“ Nicht schon wieder…dachte ich nur, während auch ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte, und selbst Lornir rutschte ein flüchtiges Grinsen heraus, während Isidor zu zittern begann und unsere beiden Thorwaler sichtlich darum bemüht waren, die Fassung zu wahren. Lediglich Aelil blieb souverän. „Nachdem du unsere Namen jetzt kennst: Verrätst du uns auch deinen?“, gab Svanja mit latent aggressivem Ton zurück. „Gerne, Schwanenkind. Mein Name ist Nariell. Übrigens, schau doch mal im Travia-Tempel vorbei, da gibt es eine Unterabteilung für die drei Süßen...“ (Mittlerweile weiß ich, dass es sich bei den Svanjars oder Schwanenkindern um die drei Söhne Travias handelt, die von den Schwestern Hjalda, Helma und Hilda verfolgt werden) Jetzt roch es richtig nach Ärger.
„Hej, hab‘ ich richtig gehört?“, sprang Bjaki Svanja zur Seite. „Nariell? Dein Name ist Nariell?“ - „Was ist denn daran so komisch?“, wollte die Fremde wissen. In Havena in ´ner Schänke bin ich mal an ´nen Kapitän geraten. Ich sag’s euch, alle paar Sekunden kam einer seiner Matrosen und wollte was von ihm. Und wisst ihr, was er jedes Mal antwortete?“ Mittlerweile war es mal wieder still um uns herum geworden. „Also, was hat dein Kapitän aus Havena gesagt, Bärchen?“ Noch spottete Nariell. Noch. Doch dann brach es aus Bjaki heraus: „Sehe ich aus wie Arella, die Meerjungfrau? Siehst du Muscheln an meiner Brust oder einen Fischschwanz? Muahahahaha…“ - „Und wo war jetzt die Stelle zum Lachen?“, hakte Nariell nach. „Boah Nariell, stell dich nicht so an“, tönte Svanja. „Arella, Nariell…Klingelt’s? Arella, die Meerjungfrau…“ In diesem Moment fiel ihr Bjaki ins Wort: „Nein, nicht Arella, die Meerjungfrau, sondern…Muahaha…“ Bjaki tobte jetzt vor Lachen. „…sondern Narella, die Bärjungfrau! Muahahaha…“
Bjaki hatte es geschafft. Mal wieder hatte er die Lacher auf seiner Seite. Die Schänke tobte bis auf Aelil und die gekränkte Nariell. „Nu er sköra“, tönte die Beleidigte in Richtung Bjaki. Heißt soviel wie „Jetzt gibt’s Ärger.“ In Windeseile drehte Nariell ihren Speer, sodass die stumpfe Seite nach vorne blickte. Bjaki konnte sich auf was gefasst machen. In geschickter Manier setzte sie dem Lästermaul mit Hieben und Stichen zu, bis Lornir dazwischen ging. „Schluss jetzt“, zischte er bestimmt. „Könnt Ihr uns jetzt endlich sagen, was Ihr von uns wollt?“
Nariell steckte ihren Speer weg und atmete tief durch. Dann erhob sie die Stimme: „Sieht aus, als bräuchtet Ihr kompetente Wildnisbegleitung“, wobei sie mit einem scharfsinnigen Blick in meine Richtung starrte. „Sehen wir selbst inkompetent aus?“, entgegnete Lornir ernst. „Das nicht, aber hier in der Wildnis zählt jeder Speer, den man aufbringen kann. Also, benötigt Ihr meinen Dienst?“
„Sei uns willkommen“, antwortete Bjaki, noch sichtlich von den Hieben und Stichen von Nariells stumpfer Speerseite gebeutelt. „Wir wollen nach Cardhavn und offensichtlich kannst du mit dem Speer gut umgehen.“ -„Havn klingt nach Meer. Warum nicht? Es wird sowieso mal Zeit für was Neues.“ Während Bjaki und Nariell noch ein Freundschaftsbier tranken, steckten wir anderen die Köpfe zusammen. „Wir müssen weiter“, sagte ich, und schließlich setzten wir unseren Weg in Richtung Tyldon fort.
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#33
Wir verließen Skovbjerg und tauchten ein in ein Meer der Dunkelheit. Eisiger Nordlandwind wehte uns um die Ohren, sodass unsere bleichen Gesichter rot und violett anliefen. Aelil führte uns durch die Nacht über den Waskirer Pfad. Nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, hielt sie uns an, ein Lager aufzuschlagen. Isidor schaltete schnell und überredete Nariell, als ortskundige Jägerin für uns auf Wassersuche zu gehen. Nach zwei Stunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, waren wir erstmals wieder unter uns. „Gut gemacht Aelil, super reagiert, Isidor“, lobte Lornir die beiden, wobei Svanja und ich zustimmten. Nur Bjaki hatte es mal wieder nicht auf Anhieb verstanden. Aelil erklärte ihm daraufhin geduldig, dass wir zwar nach Cardhavn wollten, unser erstes Ziel jedoch Vidsand sei, um in der Sache um Grimring weiterzukommen. „Ups…hatte ich ganz vergessen“, kam es Bjaki zögernd über die Lippen. „Und was nun?“, fragte Isidor ratlos in die Runde. „Spätestens in Cardhavn müssen wir die gute Nariell wieder loswerden“, warf Lornir ein. Dann überraschte mich Bjaki, indem er Verantwortung übernahm: „Ich habe uns die Suppe eingebrockt, ich löffle sie auch wieder aus. Gebt mir zwei Tage Zeit.“ - „Und wie willst du das anstellen?“ Aelil schien noch nicht an eine Lösung zu glauben, zumal der Vorschlag von Bjaki kam. „Indem wir unsere Route abändern und über Waskir nach Cardhavn reisen. Neben Prem gibt es dort den besten Schnaps weit und breit. Ich werde sie zum Duell herausfordern und abfüllen. Bis sie ihren Rausch ausgeschlafen hat, sind wir über alle Berge.“ - „Dann könne wir auch gleich wegrenne“, meinte Isidor ungläubig. Daraufhin erklärte Lornir, dass es sich bei Nariell um eine Thorwaler Jägerin handle, und dass man eine solche nicht mal einfach so abschütteln könne, weder im Schlaf, noch bei der Jagd. Sie würde uns wiederfinden und dann wolle man ihr besser nicht begegnen. Ein gewaltiger Rausch könne sie jedoch in Tiefschlaf versetzen und damit die notwendigen Stunden Vorsprung verschaffen. „Ich vermute mal, die Option, ehrlich zu sein, erübrigt sich“, warf ich ein. Lornir wies mich darauf hin, dass er Ehrlichkeit in diesem Fall für die denkbar schlechteste Option halte, da unsere Bärjungfrau jederzeit die Gruppe verlassen, allein in der Wildnis von Orks gefangen genommen und durch Folter zur Herausgabe des Geheimnisses um unsere Mission genötigt werden könne. Wir diskutierten noch eine Weile, dann waren wir uns sicher: Unsere einzige Hoffnung bestünde darin, dass Nariell von Bjaki in Waskir unter den Tisch gesoffen würde. Kurz darauf war Nariell auch schon von der Wassersuche (zu unserem Erstaunen erfolglos) wieder zurückgekehrt.


Tyldon, 14. Travia (Rohalstag)
Der Pfad durch das Waskirer Hochland zieht sich. Die Spuren der letzten Tage sind uns sichtbar anzumerken. Müde und ausgelaugt schleppten wir unsere Körper hinter Nariell her, bis wir am Abend Tyldon erreichten. Heute Abend gönnen wir uns zur Abwechslung mal wieder eine Herberge. Um von unserem Plan abzulenken, fragte ich in die Runde, ob wir über Vidsand oder Waskir nach Cardhavn reisen sollten. Um ein Haar wäre das schiefgegangen: „Bogskari, ich nehme an, dass deine Frage ein Scherz ist“, entgegnete Nariell schmatzend. „Wieso?“ - „Jedes Kind weiß doch, dass dieser Pfad nur im Sommer begehbar ist. Den ganzen Travia über hat es ohne Unterlass geregnet, da kommt doch kein Mensch mehr durch. Es sei denn, du willst als Moorleiche im Rhoenikalihgsee enden, aber das kannst du ja nicht ernst gemeint haben. Bogskari, in der Wildnis wärst du hoffnungslos verloren!“ Damit war heute anstelle von Bjaki mal jemand anderes für die allabendliche Unterhaltung zuständig. Soweit so gut, hätte Svanja mir nicht gesteckt, was Bogskari auf Mittelländisch heißt: Bogenschütze. Hoffentlich nehmen sie mir den Jäger jetzt noch ab, sonst könnte es unangenehm werden. Immerhin, unsere Reiseroute war spätestens jetzt geklärt. Morgen wird es in Waskir zum großen Wetttrinken kommen.
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#34
Waskir, 15. Travia (Feuertag)
Ich muss gestehen, Waskir ist das Erste, was ich hier oben im Norden erblicke, was mich halbwegs an eine Festung erinnert. Die Stadt ist von einem Erdwall umgeben, dessen Unterseite mit allerlei Gestrüpp versehen ist. Unmittelbar auf der Höhe des Walls befinden sich jedoch keine Palisaden, sondern Schlammgruben, um anrückende Gegner fernzuhalten. Erst 300 Schritt dahinter erhebt sich die Mauer der Stadt. Zwei Sippen konkurrieren um die Hetwürde. Während hinter den Mauern das Leben der Bewohner von dieser Fehde beherrscht wird, scheinen sie im Kriegsfall jedoch alle zusammenzuhalten - zumindest, wenn man Lornirs Worten Glauben schenkt. Allerdings ist das für einen Fremden wirklich schwer vorstellbar. Wir haben in der alten Halle des Ortes Quartier bezogen. Bjaki, der ja aus der Region ist, klärte uns darüber auf, dass es besser sei, erstmal für keine der beiden Sippen - die Nunnur und die Farseeson - Partei zu ergreifen. Ihm war es sichtbar ernst mit seinem Plan.
„Sag, Nariell, welche Variante des Waskirer findest du besser?“, ging er seine Mission fragend an. „Mir sagt der Faerseesonsche eher zu. Der ist nicht so bitter“, antwortete unsere Jägerin kurz. „Dann hast du noch keinen richtigen Nunnurer vorgesetzt bekommen. Ich denke, das sollte sich heute Abend mal ändern.“ - „Ach, lass mal. Du kannst das ja gerne tun, ich bleibe bei der milderen Variante.“ - „Dir entgeht was, frag Svanja. Sie hat mal als Schankmagd gearbeitet.“ - „Ich geb’s ungern zu, Nariell, aber da muss ich Bjaki recht geben“, schaltete sie sich auch gleich in das Gespräch ein. Du verpasst was.“ - „Mädchen, ich bin aus dem Alter raus, dass ich mir von Männern vorzuschreiben habe, was ich trinke und was nicht.“ -„Äh…Nariell, willst du mich beleidigen? Bin ich ein Mann?“ - „Du nicht, aber es war ja auch nicht deine Idee.“ - „Gut, wenn du nicht mit Bjaki einen heben willst, dann trink doch einen mit mir.“ - „Kindchen, was soll das? Ich mach dir ´nen Vorschlag: Wenn du einen auf beste Freundin machen willst, solltest du mit Aelil was trinken.“ Die Angesprochene schmunzelte. Allerdings wich dieses kurze Grinsen sehr schnell einem bösen Blick in Richtung Nariell. „Ich glaube, das heißt Nein“, kommentierte Svanja frech. „Also Nari, was is?“, hakte Bjaki nach. Wenn du dich nicht traust, gegen mich anzutreten, kann ich das verstehen. Aber dass du Angst hast, von Svanja unter den Tisch getrunken zu werden, nicht. Schau sie dir doch an! Sie ist immer noch fertig von den paar Orks aus den Hjaldorbergen.“ - „Nenn‘ mich nicht Nari, Bürschchen!“ - „Ach, ich find’s süß“, kommentierte Svanja. „Nari, ich mach dir ´nen Vorschlag.“ Bjaki ließ nicht locker. „Du trittst gegen mich im Nunnurer-Trinken an. Gewinnst du, trage ich die nächste Woche über dein gesamtes Gepäck. Gewinne ich, darf ich dich fortan Nari nennen.“ Die Spannung stieg. Würde Nariell dieses Angebot annehmen? Nach zehn Sekunden, die uns allen wie eine Ewigkeit vorkamen, machte sich Nariell auf, die Halle zu verlassen. „Ich geh' mich noch nach ´n paar Rinder- und Bärenfellen umsehen…schließlich soll unser Bärchen morgen was zu schleppen haben. Wir treffen uns in einer Stunde in ‚Ifirns Bogen‘.“ Und weg war sie. „Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“, kommentierte Bjaki die Szene mit einem breiten Grinsen.
Der Fisch hat angebissen. Jetzt muss er nur noch aus dem Wasser gezogen werden.
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#35
Unterwegs zwischen Waskir und Muryt, 16. Travia (Wassertag)
Bei Einbruch der Dunkelheit trafen wir Nariell in „Ifirns Bogen“ an, ganz wie verabredet. Bjaki wirkte entschlossen, und das stimmte uns zuversichtlich. Er wollte gerade auf unsere Jägerin zugehen, als ihn eine Hand an der Schulter packte. „Freundchen, du hast mich angerempelt“, tönte es hinter ihm aus der Kehle eines muskelbepackten und offensichtlich streitsüchtigen Einheimischen. „Jetzt nicht, ich hab‘ schon ´ne Verabredung“, versuchte sich Bjaki zu wehren. Nariell mischte sich ein und teilte Bjaki mit, dass sie ihr Wetttrinken auch gerne verschieben könnten. „Also Bürschchen, was ist jetzt? So einfach kommst du mir nicht davon…“ Der Einheimische hatte es tatsächlich auf Bjaki abgesehen und unsere Karten standen mittlerweile alles andere als gut. Offensichtlich waren Bjaki die Argumente ausgegangen und wir hatten keinen Plan B. Aber wir hatten Aelil! Mit einem ihrer Zauber sorgte sie dafür, dass der Einheimische sein Gemüt urplötzlich wieder entspannte, sodass dem Wetttrinken zwischen Nari und Bjaki nichts mehr im Weg stand.
Bjaki wollte eine schnelle Entscheidung und schlug vor, den Schnaps aus Krügen zu trinken. Nari nahm an, und so wurden ein gewaltiger Krug Nunnurer sowie zwei Bierhumpen serviert. Um es kurz zu machen: Nari verlangte unserem Thorwaler alles ab, aber letzten Endes behielt er die Oberhand. Nach mehreren Krügen klappte Nari über dem Tisch zusammen und wir verließen die Taverne. Jetzt hieß es nur noch eines: Rennen! Rennen, was die Füße hergeben! Wir verließen die Stadt gen Westen. Wenn alles gut geht, werden wir morgen das Meer erreichen. Was uns da wohl erwarten wird? Bjakis Sippe? Eine Seuche? Oder gar Nariells Zorn? Egal was es sein wird, ich habe das Gefühl, dass wir standhalten werden.
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#36
Muryt, 17. Travia (Windstag)
Das Nordmeer! Majestätisch erstreckte sich der Hjaldinggolf vor uns in all seiner Pracht. Ein eisiger Wind färbte unsere Ohren feuerrot, als wir gegen Nachmittag Muryt an der Mündung des Mereks erreichten. In Kürze könnten wir uns selbst ein Bild davon machen, ob Lornirs Aussagen über die angeblich hier grassierende Seuche wahr sind. „Sieht gar nicht wie Thorwaler Stadt aus“, bemerkte Isidor scharfsinnig. „Muryt ist eigentlich keine thorwalsche Stadt“, kommentierte Bjaki belehrend. „Die Stadt wurde vor einigen hundert Jahren von albernischen Flüchtlingen gegründet, die durch eine gewaltige Flut in ihrer Heimat alles verloren hatten und hier oben im Norden einen Neuanfang wagen wollten.“ Offensichtlich mit Erfolg, denn die Handelskontore und Speicherhäuser der Albernier zieren die Stadt bis heute.
„Dein Geschichtsunterricht in Ehren, Bjaki, aber ich denke, wir sollten uns jetzt auf andere Dinge konzentrieren“, holte Svanja unseren Historiker auf den Boden der Tatsachen zurück. Vorsichtig setzten wir unseren Weg in Richtung Merekmündung fort. Zu unserer Verwunderung stellten wir fest, dass von Pest oder Trauer keine Spur zu sehen war. „Lasst uns zur Fähre geh’n“, sagte Lornir bestimmt. Wir liefen den gepflasterten Weg herab, als uns eine fröhliche ältere Dame entgegenkam. „Gepriesen sei Swafnir!“, rief sie uns zu. Kurz darauf folgten zwei vornehme Herren, die mich von ihrer Kleidung an havenische Kaufleute erinnerten, die ebenfalls im Vorübergehen Swafnir priesen. Es folgte noch eine Schar Kinder, und als diese dann auch dem Gottwal in höchstem Maße huldigte, ließ es sich Svanja nicht nehmen, nach dem Grund ihrer Freude nachzufragen. „Swafnir hat uns von der Seuche erlöst! Swafnir sei gepriesen!“ - „Wie - er hat euch von der Seuche erlöst?“ Svanja hakte nach. „Seid ihr euch da sicher?“ -„So sicher wie diese Straße zur Fähre geht! Swafnir hat das Opfer angenommen.“ - „Welches Opfer? Kinder, lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen.“ - „Hier lebte ein sehr gläubiger Mann, der mit Swafnir reden konnte…“ - „Meint ihr Swafnan? Swafnan den Stillen?“, schaltete sich unser Druide ein. Offensichtlich schien er jenen Mann zu kennen. „Ja, Swafnan! Er hat sich vor zwei Tagen selbst getötet, um Swafnir ein würdiges Opfer zu sein, im Austausch dafür, dass er uns von der Seuche befreit. Und Swafnir hat sein Opfer angenommen! Jetzt wird alles wieder gut!“ Ehe wir uns versahen, waren die Kinder schon in einer der unzähligen kleinen Gassen verschwunden. „Habe ich das richtig verstanden?“ Ich konnte es nicht fassen. „Euer Swafnir nimmt Menschenopfer an?“ - „Das wird er wohl von seiner mittelländischen Mutter haben“, konterte Svanja kühl. „Weiß der Geier, wie viele würdige Krieger-Opfer sie schon angenommen hat. Dann lass doch auch Swafnir ein Priester-Opfer annehmen.“ - „Wir sollten uns umhören, ob jemand die Aussage dieser Kinder bestätigen kann.“ Das war schnell erledigt. Offensichtlich hat hier vor zwei Tagen tatsächlich ein gewaltiges Swafnir-Wunder stattgefunden! Während wir alle überwältigt waren, kam Bjaki relativ schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wer weiß, ob seine Familie überlebt hat? Er wollte auf schnellstem Weg nach Cardhavn, um Gewissheit zu erlangen. Schließlich konnten wir ihn dann aber doch noch überreden, für heute zu rasten und das Erlebte zu verarbeiten. Erst dieser Efferdmorgen, der mein Leben veränderte, dann dieses Swafnir-Wunder. Was ich wohl sonst noch alles hier oben im Norden erleben werde? Jedenfalls sind mir die Bewohner von Muryt sehr sympathisch. Flucht verbindet.
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#37
Cardhavn, 18. Travia (Erdstag)
Heute habe ich Bjakis Familie kennengelernt! Glücklicherweise sind sie alle von der großen Seuche verschont geblieben. Ich hoffe, dass unser Thorwaler jetzt seinen Kopf frei bekommen hat und sich fortan wieder voll auf die Suche nach der Schicksalsklinge konzentrieren wird. Seine Schwester Torgrid ist eine stattliche junge Frau Mitte 20. Gemeinsam mit Einar, ihrem Mann, hat sie schon zwei Kinder: Sechs Götterläufe hat Torge bereits hinter sich, seine Schwester Ragnild immerhin schon drei. Beide kommen nach ihrer Mutter und ähneln damit natürlich auch ihrem Onkel. Oder sollte ich eher sagen, dass das Umgekehrte der Fall ist?
Natürlich konnte unser stolze Hüne seine Zunge nicht hüten - Neffe und Nichte sollten schließlich stolz auf ihren Oheim sein.
Während Bjakis Ausplauderei unseres Geheimnisses von unseren Magiebegabten eher mit Sorge aufgenommen wurde, reagierten Einar und Torgrid eher gelassen. Torgrid nahm ihre Rolle als Gastgeberin gerne wahr und brachte uns Rinder- und Ziegenhäute zum Daraufsetzen und Wärmen. Einar, ein eher ruhiger und nachdenklicher Hüne Ende zwanzig, servierte jedem von uns ein Horn mit köstlich schmeckenden, süffigen, eigens hergestellten Honigmet. Was für ein herrlicher Empfang nach solch einer langen und strapazierenden Küstenwanderung!
Wir saßen um die zentrale Feuerstelle des Thorwaler Langhauses, auf der gerade eine fette Ochsenkeule vor sich hin schmorte. Ragnild und Torge sprangen im Raum herum, der mittlerweile von herrlich duftendem Buchenholzrauch erfüllt wurde. Nachdem auch Torgrid und Einar Platz genommen hatten, begann Bjaki zu erzählen. Er erzählte unsere gesamte Geschichte, von seinem Landgang und seiner schlechten Laune, die er an Isidor auslassen wollte, von meinem Eingreifen und der Raufeinlage in den vier Winden mit Svanja, vom Auftrag des Hetmanns und wie jener Efferdmorgen unser aller gesamtes Leben auf einen Schlag verändert hatte. Zur Krönung seiner Erzählung zog er stolzerfüllt Isleifs Kartenteil aus meinem Rucksack und präsentierte es seinen Verwandten auf der langen hölzernen Esstafel des Hauses. Still war es geworden. Auch die Kleinen lauschten jetzt ihrem Onkel wie gebannt. Einar hätte fast die Ochsenkeule anbrennen lassen, so mitgenommen war er von Bjakis Erzählkunst. "Das hat er von seinem Vater", verkündete Torgrid stolz. "Was meinst du, kleiner Bruder", fuhr sie fort, "würdest du mir eine solche Reise ebenfalls zutrauen?" - "Swafnir bewahre! Das wäre viel zu gefährlich", konterte Bjaki. "Warum? - Weil ich schon Mutter bin?" - "Weil deine Kinder ihre Mutter brauchen". -"Wer weiß? Vielleicht hast du in irgendeinem Hafen auch schon Kinder, die ihren Vater vermissen?" Einar unterbrach die Diskussion: "Essen fassen!" Und er fügte hinzu: "Schwager, ich würde solch eine Reise meiner Frau durchaus zutrauen."
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#38
Unterwegs zwischen Cardhavn und Vidsand, 19. Schlachtmond. Es ist Firunsdag.
Letzte Nacht war es spät geworden. Bjaki erzählte und erzählte. Vor lauter Reden hatte er fast nichts gegessen. Gut für den Rest von uns, denn die Ochsenkeule schmeckte wirklich vorzüglich. Einar erklärte mir, dass gerade Schlachtmond sei - der thorwalsche Name für den Monat Travia. Dieser heiße so, da um diese Jahreszeit jede Menge Vieh geschlachtet werde, da man nicht alles über den Winter bekomme. Beim Met wurden meine Thorwaler Freunde äußerst aufgeschlossen und ich hatte am Ende das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Ich habe beschlossen, fortan meine Einträge in Thorwalscher Zeitrechnung zu notieren.
Wir hatten eine gute Zeit miteinander. Lediglich Torgrid wirkte hin und wieder etwas unentspannt, vor allem als Isidor einen seiner Jonglierbälle verlor und dieser unter Torges Bett kullerte. Sie ist eben eine Mutter, und das kann sie nicht mal gerade eben abschalten. Wir blieben noch den Vormittag und brachen nach dem Essen und einer ausführlichen Verabschiedung auf.
Leider sind Cardhavn und Vidsand nicht durch einen Pfad miteinander verbunden, und da heute kein Schiff in Richtung Süden auslief, beschlossen wir, uns irgendwie an der Küste entlang durchzuschlagen. Der Weg über Waskir und Tyldon ist keine Alternative, zumal uns da irgendwo noch Nariell auflauern könnte, was für uns mit Sicherheit keine angenehme Begegnung werden dürfte.
"Heute sehr windig sein", brach Isidor nach zwei Stunden Fußmarsch entlang der Küste die Stille, die seit unserer Abreise zwischen uns herrschte. "Das Gefühl habe ich auch", erwiderte Bjaki, "nur, dass es diesmal nicht der Beleman ist. So wie hier die Wellen in die Brandung haun, sollten wir unser Lager heute weiter landeinwärts aufschlagen." - "Belewas?", hakte ich nach. "Der Westwind", erklärte mir Svanja. "Er ist einer der Sieben Winde." -"Und was ist mit den anderen sechs?" -"Die sind nicht ganz so harmlos", tönte es aus dem Rauschebart unseres Druiden. Besorgniserregend fuhr er fort: "Nuianna, die zweite der Sieben Winde, bringt Nebel. Horoban, der dritte, sorgt für Dunst. Nummer vier, Rondrikan, kommt als Hurrikan. Der fünfte, Caranthu, ist ein geheimnisvoller Ostwind, der Schiffe schnell werden lässt. Zu schnell, wenn man nicht aufpasst. Der sechste, Harunka, ist ein Kälte bringender Fallwind." - "Und der siebte?" - "Lasst uns ein Nachtlager aufschlagen. Wir haben nicht mehr lange Tageslicht." Ich kann es ehrlich gesagt gar nicht haben, wenn jemand meine Fragen ignoriert. Bei Lornir allerdings kann ich es zweimal nicht haben, weil das meistens nichts Gutes bedeutet. Gereizt warf ich meinen Rucksack auf den Boden. Ich spürte eine warme Hand auf meiner Schulter. Es war Svanja. "Katla." -"Und?" -"Katla ist die jüngste der Sieben Windgeschwister. Man sagt sich, wenn sie aus dem Meer emporsteigt und singt, dass dann das Wasser um sie herum zu Säulen wird und die Flut so heftig, dass ganze Landstriche bis weit ins Geest überflutet werden. Außerdem..." - "Außerdem was?"- "Naja, ich bin Thorwalerin. Wir sind ein abergläubisches Volk. Du wirst mir ja doch nicht glauben." - "Das werde ich erst beurteilen können, wenn du mir sagst, was es noch mit Katla auf sich hat." - "Einer der Seefahrer in den Vier Winden erzählte mir mal, dass er Katla mitten im Meer singen gesehen habe und die Wassersäulen um sie herum so stark gewesen sein sollen, dass es abscheuliche Kreaturen aus dem Wasser gezogen hat...." - "Wie sahen diese Kreaturen aus?" Es war Lornir, der Svanja unterbrach. "Naja...er war schon was angetrunken...", fuhr unsere Thorwalerin fort. - "Svanja, du sagst mir jetzt, wie diese Kreaturen aussahen!" Lornir wurde lauter. Jetzt schien auch er besorgt zu sein. Währenddessen blies es unbeeindruckt weiter um unsere Ohren. Bjaki und Isidor hatten alle Mühe damit, unser Gepäck zusammenzuhalten. "Naja...", fuhr Svanja schließlich fort. "...Laut Aussage des Gasts waren es mehrere Seeschlangen. Ihre schwarze, schuppige Haut war voll von Muscheln, Algen und Seetang besetzt - wie bei Wracks, die es auf den Meeresgrund verschlagen hat. Eines von ihnen soll sogar gehörnt gewesen sein." - "Bist du dir sicher, Svanja?" Lornir wollte es genau wissen. "Klar bin ich mir sicher. Der Gast erinnerte sich sogar noch an die genaue Anzahl der Hörner. Es waren acht." - "Schamaschtu", kam es dem Alten über die Lippen. Keiner von uns wagte nachzufragen, was es damit auf sich hat.
Stillschweigend versuchten wir zu vergessen, was wir gerade eben gehört haben. Hinter einem Felsvorsprung wurde ein Feuer gemacht. Einar hat uns reichlich Ochsenfleisch mitgegeben, von dem wir heute Abend zehren konnten. Als ich zum Austreten für einen kurzen Augenblick verschwand, folgte mir Lornir Mit seinen eisgrauen Augen starrte er mich an: "Fion, du musst Grimring finden. Versprich mir das." - "Ich verstehe nicht." - "O doch, du verstehst. Versprich mir, dass du Thorwal und Hetmann Tronde bei deinem Leben verteidigen wirst." -"Ich verspreche es dir, Freund Lornir." Er packte meine rechte Hand mit der seinen, sodass sich unsere Unterarme berührten. Dann verschwand er in Richtung Strand.
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#39
Für den Moment war ich wie versteinert. Was hatte Lornir nur vor? Ich ging zum Lagerfeuer zurück und haute unsere Thorwalerin an, die für die erste Nachtwache eingeteilt war. Bjaki und Isidor versuchten im Schutz der Dünen zu schlafen, was sich jedoch aufgrund des heftigen Winds und Svanjas Schauergeschichten für die beiden Abergläubischen als äußerst schwierig erwies. Aelils Blick, der an Schärfe der eines Schwerts aus Koscher Stahl glich, war ununterbrochen auf die tosende See hin gerichtet. Offensichtlich dachten wir alle dasselbe, aber keine wage es auszusprechen: Schamaschtu. Was hatte es mit Svanjas Seemannsgarn und diesem abartigen Hurrikan auf sich?
Da fiel mir ein, dass ich vor lauter Nachdenken die anderen noch überhaupt nicht über Lornirs Abgang informiert hatte. "Lornir ist weg!", brach ich das Schweigen. "Wenn Druide weg, große Gefahr", jammerte Isidor und verkroch sich tiefer unter seiner Decke. "Lasst uns nachsehen", sagte Aelil. "Er ging zum Strand runter!", ergänzte ich. Bjaki warf seine Decke zur Seite und erhob sich. Isidor zögerte, kam dann aber ebenfalls mit. Im Angesicht des fade leuchtenden Mondes folgten wir Aelil hinab zum Strand. Was uns wohl erwarten würde?
Ich traute meinen Augen nicht. Mitten aus dem Meer ragten vier Säulen aus Wasser heraus, die sich fontänenartig nach allen vier Himmelsrichtungen ergossen. Aus dem Zentrum der Säulen war ein eigenartiger Gesang zu vernehmen. Einerseits klang es so schrecklich, sodass wir uns alle die Ohren zuhalten mussten. Andererseits hörte es sich irgendwie auch so betörend an, dass man einfach nur zuhören wollte. Bjaki verlor als erster die Beherrschung: Von dem anmutigen Gesang hingerissen, warf er sein Skraja zur Seite und stürzte sich Hals über Kopf in die Fluten. Svanja versuchte ihn zurückzuhalten, doch ohne Erfolg. Der junge Thorwaler folgte dem Klang in die See wie der Ochse dem Bauer zur Schlachtbank. Der Gesang schien Kräfte in ihm freizusetzen, sodass er Svanja mit solch einer Wucht von sich stieß, dass sie von den Wellen aufs Meer hinaus gespült wurde. An Land schwimmen war ihr nicht mehr möglich, Wind und Wogen zogen sie ebenfalls wie Bjaki in Richtung der Wassersäulen. Es dauerte nicht lange, bis es auch Isidor nicht mehr aushielt. Er entledigte sich seiner Wurfmesser und folgte seinen Thorwaler Freunden. Meine Blicke schweiften zu Aelil, in der Hoffnung, ihre Zauberkünste könnten uns retten. Hoffnungsvoll sah ich, wie sie ihr Hände hin und her bewegte und das Zentrum der Wassersäulen mit ihren nachtschwarzen Augen fixierte. Es hatte den Anschein, als versuchte sie, das Sturmgebrüll zu besänftigen, doch ohne Erfolg. Schließlich konnte ich mich ebenfalls nicht mehr halten. Ich konnte mich drehen und wenden wie ich wollte, auch mich zog es aufs Meer hinaus. Wie von Sinnen schmiss ich meinen Bogen zur Seite und rannte ins Wasser. Lediglich unsere Firnelfe vermochte es, dem Gesang Stand zu halten. Mit rasender Geschwindigkeit nahten wir vier uns den seltsam aus dem Wasser ragenden Säulen. Mein Verstand war wie gelähmt. Ich wusste, dass meine Gedanken versuchten, sich dem Gesang zu widersetzen, aber mein Körper hörte nicht auf mich. Ich spürte die Eiseskälte, die das Wasser versprühte, spürte den Schmerz. Es schien mir jedoch nichts auszumachen. Das Bedürfnis, den Gesang zu hören, war stärker. Offensichtlich schien es den anderen ebenfalls so zu gehen. Schließlich erreichten wir die Wassersäulen und ich hörte Isidor fürchterlich schreien. Der schöne Klang war augenblicklich verpufft. Jetzt spürte ich die schmerzhafte Kälte des Wassers in vollem Ausmaß.
Etwas packte Isidor und zog ihn nach unten. Wenige Sekunden später ereilte Svanja dasselbe Schicksal. Kurz darauf erwischte es Bjaki. Intuitiv griff ich zu meinem Köcher und holte die letzten beide Pfeile heraus, die die Wellen noch nicht davongetragen hatten. Ich machte mich darauf gefasst, der Nächste zu sein. Doch soweit kam es nicht. Stattdessen wurde im Licht des Mondes ein Schatten auf der Wasseroberfläche sichtbar, der aus der Tiefe des Hjaldinggolfs kam und immer größer wurde.
Schließlich tauchte es auf: Im Dunkel der Nacht konnte ich die Silhouette einer riesigen Seeschlange ausmachen. "Schamaschtu!" hörte ich eine mir bekannte Stimme rufen. Es war Lornir. Bis zum Schaft hatte der Druide seinen vulkangläsernen Dolch in die Schuppen des Untiers gebohrt. Die Waffe leuchtete smaragdgrün und Lornir hob sich mit der Rechten daran fest. "Schamaschtu! Im Namen Efferds und seines Sohnes Swafnir! Du kommst hier nicht durch!"
Die bestimmten Worte des Druiden schienen das Monster jedoch nur wütender zu machen. "Uuuaaaaaaaaaaaaaaarrrrh", tönte aus dem Rachen des Ungeheuers. Zornentbrannt spießte es Bjaki mit einem seiner Hörner am Rücken auf, sodass dieser so fürchterlich schrie, wie ich noch nie einen Mann hatte schreien hören. Danach schüttelte es sich dermaßen, dass Isidor sich aus seinem Griff löste und in die Weiten des Ozeans geschmissen wurde. Nach wenigen Sekunden vernahm ich einen lauten Aufprall. Erneut hörte ich Lornir rufen: "Du kommst hier nicht durch!" Während ich mich dem Ungetüm näherte, konnte ich nun auch Svanja erblicken. Der Körper der Riesenschlange hielt sie fest im Würgegriff. Als sie mich ebenfalls sah, fing sie hoffnungsvoll an, nach mir zu schreien. Ich musste etwas tun.
Mit dem Mut der Verzweiflung näherte ich mich Schamaschtu und rammte einen der beiden Pfeile in seinen schuppigen Leib und griff mit der Linken danach. Wenn es mir jetzt noch gelänge, mit der Rechten den anderen Pfeil in dem Panzer des Seeungeheuers zu platzieren, könnte ich eine Hangel-Treppe bauen, um Svanja befreien zu können. Währenddessen hallten immer wieder die schmerzerfüllten Schreie Bjakis in mein Ohr. Ich hatte jedoch keine Wahl. Ich musste sie ignorieren. "Ich komme, Svanja! Halte aus!", rief ich ihr zu. Nachdem der zweite Pfeil erfolgreich saß, versuchte ich nun, den ersten wieder herauszuziehen und mich so Stück für Stück meiner jungen Gefährtin zu nähern. Dieses Vorhaben schien zunächst erfolgversprechend. Schamaschtu wurde von Lornir abgelenkt, sodass ich Pfeil für Pfeil näher an Svanja herankam. Ich konnte bereits in ihre tiefblauen Augen blicken, die neben Schmerz und Verzweiflung auch noch ein Drittes ausstrahlten: Hoffnung. "Schamaschtu!" Wieder konnte ich Lornirs Stimme vernehmen. Aus Bjakis Richtung hingegen war es ruhig geworden. "Du kommst hier nicht vorbei!", hörte ich Lornir dem Monster erneut zurufen. Dieses schien jedoch endgültig genug zu haben. "Uuuaaaaaaaaaaaaaaarrrrh", schrie es noch einmal mit aller Kraft, sodass ich es kaum mehr aushalten konnte. Ich konnte nicht anders. Reflexartig musste ich mir die Ohren zuhalten und stürzte ins Wasser zurück. Lornir stürzte ebenfalls in die Tiefe, sein Vulkanglasdolch hingegen blieb im Schuppenpanzer der Seeechse stecken. Schamaschtu tobte. Er drehte sich und wandte sich mit solcher Kraft, dass er jetzt auch noch Svanja in die Weiten des Meeres hinaus warf. Schreiend verschwand sie im Nachthimmel. Schamaschtu schmiss sie so weit, dass ich nicht mal einen Platschen beim Aufprall vernehmen mochte. Für den Moment schien er befriedigt zu sein. Aber für welchen Preis! Ich wollte gar nicht daran denken. Schamaschtu war aber noch nicht zufrieden. Mit seinen bernsteinfarben funkelnden Drachenaugen schien er Lornir zu fixiern. Die Blicke der beiden kreuzten sich erneut. Schließlich holte die Seeschlange zum Angriff aus und nahm Lornir in den Würgegriff. Swafnir sei Dank konnte ich schnell reagieren und mich an meinem leblosen und aufgespießten Freund Bjaki hochziehen. Ein letztes Mal sah ich Lornir in seine eisgrauen Augen. "Flieht, ihr Narren!", zischte er mich mit zornigem Blick an. Intuitiv und mit allerletzter Kraft riss ich Bjaki vom Horn der Schlange herunter. Dann verschwand das Monster mit Lornir im Würgegriff in den Tiefen der See. Die Wassersäulen warfen sich ins Meer zurück, das sich
langsam zu beruhigen schien. Es war zwar immer noch stürmisch, aber Wind und Wellen begannen, langsam nachzulassen. Das Land war noch in Sichtweite. Durch meinen immensen Kräfteverschleiß bedingt war es jedoch unmöglich zu erreichen. Was sollte ich tun?
Bjaki dem Meer übergeben, um dann wenig später selbst zu ertrinken? Ich bereitete mich darauf vor, in Kürze zu sterben. Das Schicksal kann eigenartig sein. Da habe ich Jahre lang nie das Meer zu Gesicht bekommen, und dann schien mir Efferd oder Swafnir ein Seemannsgrab zu gewähren. Aber soweit kam es nicht. Während ich noch abschiedsvoll an die immer kleiner werdende Küste des Hjaldinggolfs blickte, kamen von dort aus Lichtstrahlen auf mich zu, die eine Brücke bildeten. Ich dachte zunächst an eine Einbildung, aber die Lichtbrücke verschwand nicht. Zunächst zögerte ich noch einen Augenblick, dann griff ich mit einer Hand danach. Und tatsächlich - ich konnte mich daran festhalten. Ich hievte meinen leblosen Freund darauf und anschließend mich selbst.
Wie ging es jetzt weiter? Svanja und Isidor waren noch irgendwo da draußen, sofern sie den Aufprall überlebt haben. Hinzu kamen die eisigen Temperaturen, bei denen wir es alle wohl nicht mehr lange aushalten würden. Was für eine grausame Situation! Viel Zeit zum Nachzudenken blieb mir nicht. Die Lichtbrücke wurde schnell dünner. Ich entledigte Bjaki und mich unserer Krötenhaute und warf mir den Leblosen über die Schultern. Die Brücke würde nicht mehr lange halten. Ich rannte, was das Zeug hielt. Mit den letzten Reserven erreichte ich den Strand, wo Aelil ohnmächtig am Boden lag. Das Aufrechterhalten der Lichtbrücke hatte ihre gesamte Konstitution verzehrt. Erschöpft legte ich Bjaki neben mir ab und ließ mich fallen, ehe ich ebenfalls ohnmächtig wurde.
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#40
Vidsand, 20. Schlachtmond. Es ist Swafnirsdag.
Nach einer Nacht, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wurde ich von den ersten Sonnenstrahlen und dem Kreischen der Seemöwen geweckt. Ich musste schlecht geträumt haben - aber das hatte ich nicht. Nachdem ich mich erhoben hatte, sah ich lediglich Aelil an meiner Seite, die Bjakis Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Von Svanja, Isidor und Lornir gab es jedoch weiterhin keine Spur. Verzweifelt sah ich Aelil an. "Er hat viel Blut verloren. Sehr viel", brach sie die Stille. "Was kann ich tun?" - "Während du schliefst, habe ich schon jede Menge versucht. Die Blutung ist gestillt. Das Blut ist aber nicht alles." - "Ach ja?" - "Sein Körper ist von einem mir unbekannten Gift durchzogen. Ich befürchte, meine Heilkünste reichen hierfür nicht aus." - "Wird er sterben?" - "Ich kann ihn höchstens noch ein paar Tage am Leben erhalten." Ich konnte mich nicht mehr halten. Schmerzerfüllt rannte ich zu dem heute Morgen friedlich aussehenden Wasser und schrie all mein Leid hinein: "Aaaaaaaaaaaaarh! Ich habe heute Nacht drei meiner Gefährten verloren! Sollen es jetzt vier sein? Warum? Warum ich? Waaaaaaarum?"
Stille. Möwengeschrei.
Nach einigen Minuten spürte ich Aelils Hand auf meiner rechten Schulter. Aufmerksam vernahm ich ihre leise und anmutig klingende Stimme in meinem Ohr: "Euch Menschen ist es bestimmt, einmal zu sterben. Das ist euer Schicksal. Die drei hatten keine Chance." - "Was schlägst du vor?", wollte ich wissen. "Wir haben einen Auftrag zu erfüllen, für den wir jede Hilfe gebrauchen können. Lass uns Bjaki zu meinem Volk bringen. Die Heilkünste der Firnelfen sind unsere letzte Hoffnung." - "Macht das überhaupt Sinn? Wenn wir eh alle sterben müssen, warum nicht jetzt gleich?" - "Warum hast du dann ihn und dich selbst aus dem Meer gerettet? Fion, wir haben einen Auftrag." Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte. Aelil hatte recht. "Dann lass uns aufbrechen. Wir haben keine Zeit zu verlieren."
Leiderfüllt machten sich Aelil und ich daran, unser Nachtlager zusammenzupacken. Während sie sehr gefasst war, konnte ich die Tränen nicht verbergen. Da lagen sechs Rucksäcke herum, teilweise von Sturm und Wind verweht, aber sechs Rucksäcke. Und jetzt durfte ich mit Aelil den ganzen Plunder allein tragen. Wir konnten jedoch beim besten Willen nicht all das mitnehmen. Und so machten wir ein Feuer und verbrannten einen Großteil unserer Sachen. Sie stopfte die wichtigsten Dinge, vor allem das Kartenteil von Isleif, in ihre Tasche und ich warf mir Bjaki über die Schultern. So setzten wir unsere Reise fort.
Gegen Abend erreichten wir Vidsand. Eigentlich wollten wir zum Abendessen von den berühmten Vidsander Mehlwürsten probieren. Svanja schwärmte schon seit Wochen davon. Svanja - ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr mich ihr Verlust schmerzt. Wir haben uns in der Herberge "Windstille" einquartiert. Aelil ließ Bjaki keinen Moment aus den Augen. "Wir müssen schleunigst diese Bucht verlassen, Fion", klärte sie mich auf. "Kümmer dich um ein Schiff nach Overthorn, das ist seine einzige Möglichkeit." Ich verließ die Herberge und wandte mich dem Hafen zu. Efferd sei Dank, morgen früh läuft ein Schiff nach Overthorn aus. Zwölf Stunden soll der Küstensegler dafür brauchen. wir dürfen gespannt sein.
Anschließend stattete ich der örtlichen Schänke einen Besuch ab, wo ich erfuhr, dass es tatsächlich eine gewisse Ragna Firunjasdottir hier im Ort gibt. Angeblich soll sie am Meer wohnen. Und tatsächlich, nach ein wenig Suchen stand ich vor ihr. Erneut wurde ich in meinem Schmerz gepackt, da mich die junge, blonde Frau ziemlich stark an Svanja erinnerte. Zunächst hielt sie sich bedeckt; ich solle Hyggeliks Großnichte Swafnild Egilsdottir fragen, die mit ihrem Schiff "Hjallandstolz" die Küste abfahre. Na, da kann ich ja lange warten. Außerdem gäbe es noch einen Gerbald in Phexcaer und von Hyggeliks Verlobten einen Nachkommen namens Jurge Torfinsson in Skjal. Ragna war wirklich nicht leicht zu überzeugen, aber schließlich rückte sie damit heraus, dass sie selbst eines der neun Kartenteile habe. Und siehe da, ich konnte sie sogar überreden, mir das Kartenteil zu überlassen. Ein winziger Schein von Hoffnung in einem Meer von Trauer und Dunkelheit.
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